News aus dem Kanton St. Gallen

Die Sucht kam schleichend

min
27.04.2016
Er hat sich, wie er sagt, «schleichend in seinem Körper festgesetzt», der Alkohol. Bewusst wurde es Werner Haltinner aus Sargans erst, als er zur Therapie im Spital Wattwil war. Das war vor sieben Jahren. Seither ist er «trocken» und er engagiert sich bei den Anonymen Alkoholikern.

Bald wird er 69 und geniesst das Leben als Pensionist mit seiner Frau, so gut es ihm seine Gesundheit erlaubt. Seine beiden Kinder sind schon lange erwachsen. Rund ums Haus Beerensträucher und Rasen, auf dem sich die Frühlingsblümchen breitmachen. An einem Strauch ein liebevoll gestaltetes Insektenhotel. Und Nachbarskatzen holen sich Streicheleinheiten ab.

Das Leben von Werner Haltinner verlief aber nicht immer so idyllisch. Im Kanton Glarus aufgewachsen, war er schon in der Lehre (Polymechaniker) im örtlichen Musikverein. «Nach der Probe oder einem Fest nahm man dann ein Bierchen gegen den Durst», schildert Haltinner; man wollte ja dazugehören. In der RS dann habe es für den Sold gleich zwei Flaschen Hopfensaft  gegeben. «Das war wohl der Anfang vom Ende», sagt Haltinner nachdenklich.

Der Druck nahm zu

Die Sache nahm ihren Lauf. Er sei sich auch mit 40 nicht bewusst gewesen, ein Alkoholiker zu sein. «Man trank, hatte schöne Momente, und ‹er› (der Alkohol) hat immer wieder gesagt, nimm doch noch eins.» Der berufliche Druck nahm zu, auch weil er eine Zweitausbildung zum Fernmeldespezialist machte, «um vorwärtszukommen, der Familie mehr bieten zu können». Und abends, da gönnte er sich dann ein Bier, um runterzufahren. Die Konsequenz: Der Körper
gewöhnte sich immer mehr daran.

«Ich hatte Glück, tagsüber während der Arbeit hatte ich keinen Bedarf. Ich war viel mit dem Auto unterwegs, fiel nie negativ auf und habe auch nie gefehlt deswegen», sagt Haltinner bestimmt.

Doch dann kam es in der Firma zu Restrukturierungen. Angst kam auf, Zukunfts- und Existenz­angst, und er habe sich mit Alkohol immer wieder täuschen lassen. Zudem wurde Jahre zuvor vom Hausarzt schon ein erhöhter Alkoholwert festgestellt. Da wohnte er mit seiner Familie schon in Sargans.

Den Alkohol doch gebraucht

Was nun? Den Alkoholkonsum reduzieren? Sicher! Nur, der Körper hatte sich schon an ein bestimmtes Level gewöhnt. Und dann versuchte er es doch, aber der Körper veränderte sich, die gesundheitlichen Probleme nahmen zu: Er hatte Wasser im Bauch. Was das bedeutete, sei auch klar gewesen. Im Zürcher Uni-Spital wurde eine Leberzirrhose diagnostiziert. Ein Stent und viele Medikamente sorgen dafür, dass «ein bisschen Leber noch funktioniert», sagt Haltinner. Nun wartet er auf eine Ersatzleber.

Einige Zeit später, nach einem Zusammenbruch, kam er dann nach Wattwil. Dort habe er realisiert, dass er den Alkohol braucht, dass er Alkoholiker ist.

«Ich habe viel Glück gehabt»

Das habe dann bei ihm etwas ausgelöst. «Ich wollte mein Leben wieder in den Griff bekommen», sagt er rückblickend. Das hiess: keinen Schluck Alkohol mehr und keinen Alkohol mehr im Haus. Das war, wie gesagt, 2009. Was damals auch noch folgte, war eine innerfamiliäre «Kropfleerete». Er nennt das heute alles zusammen einen Neuanfang.

«Ich habe gelernt, nicht alles in mich hineinzufressen, auch auf meine innere Stimme zu hören.»

Ihm war seine Gesundheit wichtig, «für die bin ich selber verantwortlich». Die ganze Verwandtschaft akzeptiert das seither und steht voll hinter ihm. Sein Leben ist wieder in positive Bahnen gelenkt, «und ich habe gelernt, nicht alles in mich hineinzufressen, auch auf meine innere Stimme zu hören».

Er habe auch nach Entzug und Therapie gespürt, dass sein Umfeld ihm mehr Achtung und Rücksicht entgegenbrachte. «Nun ist alles wieder ‹normal› geworden, selbstverständlich», so Werner Haltinner. Er habe viel Glück gehabt, sagt er, «bei mir ist der 20er gefallen».

 

Text und Bild: Reto Neurauter, Grabs  – Kirchenbote SG, Mai 2016

 

Unsere Empfehlungen

«Steh auf, wenn du am Boden bist»

«Steh auf, wenn du am Boden bist»

Sigmar Willi war schon mehrmals am Boden. Als seine Frau früh starb, zog er die vier Kinder alleine gross. Jahre später geriet er in eine Erschöpfungsdepression – die schlimmste Zeit seines Lebens. Im Rückblick analysiert er, was er brauchte, um vom Boden wieder aufstehen zu können.

«Steh auf, wenn du am Boden bist» (1)

Sigmar Willi war schon mehrmals am Boden. Als seine Frau früh starb, zog er die vier Kinder alleine gross. Jahre später geriet er in eine Erschöpfungsdepression – die schlimmste Zeit seines Lebens. Im Rückblick analysiert er, was er brauchte, um vom Boden wieder aufstehen zu können.

«Mir reicht’s, ich gehe beten»

Beten, bei Gott zur Ruhe kommen: Dies eröffnet nicht nur neue Sichtweisen, sondern gibt Hoffnung. Auch Jesus zog sich jeweils zurück, um Kraft zu tanken. Unsere Autorin schöpft sie aus dem Gebet.

Glauben praktisch gelebt

Mit dem Grabser Mesmer Remo Hagger hatte Kirchenbote-Autor Rolf Kühni schon mehrere erfreuliche Begegnungen. Grund genug, ihm auf den Zahn zu fühlen und zu erfahren, was ihn in seiner Arbeit so fröhlich macht.