«Die Liebe ist viel stärker als aller Fundamentalismus»
Frau Ates, Sie pilgern mit dem Basler Kirchenratspräsidenten Lukas Kundert öffentlich von Basel nach Genf. Wie kam es dazu?
Ich habe 2015 auf Facebook die Reise eines Freundes mitverfolgt, der nach Santiago de Compostela gepilgert ist. Das fand ich toll. Pilgern gehört im Islam zu den fünf Säulen des Glaubens. Also bin ich vier Jahre später mit ihm durch Frankreich gepilgert. Da habe ich festgestellt, wie interreligiös und interkulturell Pilgern ist. Er war Christ und ich Muslimin. Daraus habe ich ein Projekt gemacht und bin letztes Jahr in Norwegen auf dem St. Olafsweg für die Menschenrechte gepilgert.
Warum pilgern Sie als Muslimin nicht nach Mekka?
Als liberale Muslimin fühle ich mich dort nicht wohl. Frauen müssen in Mekka ein Kopftuch tragen und Andersgläubige sind ausgeschlossen. Damit bin ich nicht einverstanden. Auf christlichen Pilgerwegen erlebe ich Offenheit, Natur, Spiritualität und begegne spannenden Persönlichkeiten, die auf der Suche nach sich selbst sind. Und ich erlebe Frieden.
Und jetzt pilgern Sie von Basel aus?
Ja, der Weg von Basel nach Genf ist wunderbar. Wir stellen unsere Pilgerreise, der sich hoffentlich viele anschliessen werden, unter das Motto Religionsfreiheit und Frieden.
Apropos Basel: Die Stadt am Rhein gilt als Wiege des Zionismus, da hier Theodor Herzel seine Idee eines Staates für Israel proklamierte. Seit den Terroranschlägen vom 7. Oktober und dem Krieg in Gaza erleben wir auch in Europa vermehrt Antisemitismus.
Als wir die Reise von Basel nach Genf planten, wussten wir nicht, dass am 7. Oktober ein Krieg ausbrechen würde. Ich glaube, dass der Ausgangspunkt Basel ein Zeichen für den Zionismus ist. Denn der Zionismus bedeutet nicht die Feindschaft gegenüber anderen Religionen, sondern die Überzeugung, dass auch das israelische Volk einen Ort braucht, an dem es sicher lebt. Nach dem schrecklichen Massaker vom 7. Oktober, an dem Jugendliche, Kinder und Frauen ermordet wurden, habe ich mich als Gründerin einer liberalen Moschee für das Existenzrecht Israels ohne Wenn und Aber ausgesprochen. Wir sind nicht gegen Palästina, wir sind für Frieden und für eine Zivilbevölkerung ohne Hamas.
Können Sie die Frustration der Palästinenser nachvollziehen?
Natürlich kann ich den Schmerz und die Wut der Menschen verstehen, die ihre Angehörigen und ihre Häuser verloren haben und sich so sehr nach einem Leben in Frieden und Ruhe sehnen. Ich verstehe das deshalb so gut, weil mein Vater Kurde und meine Mutter Türkin ist. Ich habe von klein auf Rassismus erlebt, nur weil man einer bestimmten Ethnie angehört. Und was es bedeutet, unterdrückt zu werden, weil wir nicht Kurdisch sprechen durften. Das war verboten. Gerade weil ich das weiss, ordne ich die Situation in Palästina anders ein als die Leute, die an den Universitäten «Free Palästina» rufen. Ich sage Freiheit in der Demokratie für alle, auch für die Palästinenser. Aber die Hamas ist sicher nicht die Organisation, die das garantiert. Sie nimmt das arme, palästinensische Volk seit Jahren in Geiselhaft, tyrannisiert und diskriminiert ihre eigenen Leute.
Zurück nach Europa: In Ihren Büchern werfen Sie den Politikerinnen und Politikern vor, einem multikulturellen Irrtum zu unterliegen.
Wir leben in einer globalisierten Welt. Die Frage ist: Wie leben wir in einer multikulturellen Gesellschaft zusammen? Meine Kritik richtet sich gegen Menschen, die die Werte der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft nicht teilen wollen und in Parallelgesellschaften abtauchen. Dagegen wehre ich mich seit Jahren. Dass ich Recht habe, zeigen die Demonstrationen in Berlin und Hamburg, wo Menschen ein Kalifat fordern und gegen die Wertediktatur protestieren. Sie wehren sich gegen die sogenannten westlichen Werte, konkret gegen die Werte des Grundgesetzes, gegen die Freiheiten in Demokratie und den Rechtsstaat. Da sage ich Nein, wir müssen gemeinsame Werte haben, wir brauchen einen gemeinsamen Kanon. Ein Nebeneinander reicht nicht.
Freiheit ist ein Wert der westlichen Aufklärung?
Freiheit ist kein westlicher Wert. Freiheit ist ein Wert, den Menschen überall auf der Welt teilen.
Sie werfen vor allem den Politikern in Deutschland vor, dass sie das Problem der Parallelgesellschaft nicht sehen wollen?
Inzwischen sehen es manche Politiker durchaus. Aber, sie wollen nicht akzeptieren, dass das Phänomen Parallelgesellschaft eine wirklich große Bedrohung darstellt. Auch konservative Parteien gehen in diese Richtung und meinen, am besten taste man das Thema nicht an. Sie hoffen auf die Stimmen konservativer Muslime aus den Parallelgesellschaften.
Schaut man bei Zwangsehen oder Sharia, weg aus Bequemlichkeit, Naivität oder einfach, weil es die eigene Familie nicht betrifft?
Seit vierzig Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema. Und erst, wenn es die eigenen Söhne und Töchtern betrifft, wachen die Leute auf. Als Leiterin einer Moschee habe ich viele Eltern beraten, deren Kinder zum Islam konvertierten, diskriminiert oder gemobbt wurden. Erst als sie die Parallelgesellschaften spürten, wurde es zum Problem. Natürlich rede ich jetzt von einer Minderheit der Muslime in Deutschland.
Zeigt sich dies an der Diskussion über das Kopftuch?
Ja. Geht es um den Islam werden linksliberale Frauen, die sich für Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben einsetzen, zu mittelalterlichen Dogmatikerinnen. Sie werden absolut unkritisch und blenden alles aus. Sie entdecken eine Toleranz, die sie gegenüber strengen Katholikinnen und Protestanten nie hatten. Wenn eine Frau erklärt, sie trage ihr Kopftuch freiwillig, dann sagen viele Feministinnen, seht, sie tut dies aus freien Stücken.
Ja, denn sie hat sich auch freiwillig dafür entschieden?
Sehen Sie, der freie Wille ist etwas, das sich in einem entsprechenden Umfeld entwickeln muss. Aber heute wachsen bereits kleine Mädchen mit Kopftuch auf, können kein Körpergefühl entwickeln und wissen gar nicht, was es heisst, sich ohne Kopftuch zu bewegen. Hier geht es nicht um Religion, sondern um eine politische Haltung, die nicht hinterfragt wird. Gerade die Feministinnen im Iran zeigen der ganzen Welt, wie schlimm es ist, nur mit einem Kopftuch auf die Strassen gehen zu dürfen. Das Thema der Frauen in den islamischen Ländern ist, dass die Männer Angst vor ihren Haaren haben. In Deutschland können wir darüber nicht sprechen, weil linke Feministinnen das blockieren. Wie deutlich muss die Mehrheit der muslimischen Frauen noch sagen, dass sie dieses Kopftuch nicht tragen wollen? Auch hier findet eine Bevormundung statt. Ich muss mich als Muslimin sogar gegenüber Atheistinnen rechtfertigen, warum ich frauenfeindliche Traditionen in meiner Religion ablehne. Das ist absurd.
Seyran Ateş
Seyran Ateş ist eine deutsche Rechtsanwältin, Autorin und Frauenrechtlerin mit türkischen und kurdischen Wurzeln. Sie macht sich für die Rechte der Frauen im Islam stark. 1984 wurde sie bei einem Mordanschlag auf eine Mandantin lebensgefährlich verletzt. Seyran Ateş ist Mitbegründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, die für einen liberalen Islam steht. Aufgrund von Morddrohungen steht sie heute unter polizeilichem Personenschutz.
Sie kämpfen seit Jahren gegen den Islamismus und das Patriarchat in der islamischen Gesellschaft, haben einen Mordanschlag überlebt und stehen ständig unter Personenschutz. Woher nehmen Sie die Kraft für Ihr Engagement?
Ich bin ein gläubiger Mensch und glaube, dass jeder Mensch eine Aufgabe im Leben hat. Offensichtlich ist dies meine Berufung. Nachdem ich angeschossen wurde und eine Nahtoderfahrung hatte, sagte ich mir: Jetzt erst recht. Diese Leute wollten mich umbringen, weil ich mich für Frauenrechte einsetze. Ich wollte das nicht einfach so hinnehmen und mich zurückziehen. Ich wollte weiter für Frauenrechte kämpfen. Schauen Sie, man wollte mich ermorden, weil ich mich dafür einsetze, dass Frauen und Männer in der Moschee gleichberechtigt sind, dass gemeinsam gebetet wird, dass Frauen auch vorbeten und predigen dürfen, dass weltliche und religiöse Macht getrennt werden. Ist das so schlimm, dass jemand den Tod verdient? Und dann geben mir die einzelnen Beratungsfälle, die ich noch übernehme, die Kraft, weiterzumachen.
Hat sich die Situation seitdem verbessert?
Nein, im Gegenteil. 1984, als ich angeschossen wurde, trauten sich nur wenige, offen ein Kalifat zu fordern. Und nur wenige Frauen trugen ein Kopftuch, Kinder schon gar nicht. In den Berliner Schulen meiner Kindheit war die Teilnahme am Schwimmunterricht kein Thema. Heute ist das ein Riesenthema und manche Fächer können nicht mehr unterrichtet werden.
Die Mehrheit der Musliminnen und Muslime in Deutschland würden Ihnen zustimmen. Warum reden wir so selten über diese grosse Mehrheit?
Lange Zeit wollten Migranten in einer liberalen Gesellschaft leben. Das hat sich in den letzten zwanzig Jahren geändert. Die Radikalen bekommen immer mehr Unterstützer. In Berlin demonstrierten 6000 Menschen für das Kalifat, in Hamburg 2000. Auf der anderen Seite wächst die schweigende Mehrheit. In Europa wachsen die Kräfte, die die Demokratie ablehnen, seien es europäische Rechte oder der politische Islam, der im Grunde genommen rechte Muslime meint. Insofern sind die beiden Ideologien identisch.
Ist der Islam reformfähig? Eine Aufklärung wie im Christentum hat es im Islam nie gegeben.
Der Islam reformiert sich schon, seit er existiert. Alle Religionen entwickeln sich ständig. Ich habe unsere Moschee nach Ibn-Rushd benannt, einem muslimischen Arzt und Juristen, der im 12. Jahrhundert in Cordoba einen aufgeklärten und logischen Islam gelehrt hat. Aber alle modernen und liberalen Bewegungen im Islam werden von den Orthodoxen und den islamistischen Regimen mit Gewalt unterdrückt. Wäre der Iran eine Woche ohne Mullahs und Terror-Regime, würde man sehen, dass es im Iran mehr Atheisten als Muslime gibt. In der Türkei und Syrien entwickelt sich das ähnlich. Nur mit Gewalt wird ein islamistisches Regime aufrechterhalten.
Was wäre wichtig?
Zu zeigen, dass es auch liberale Muslime gibt. Die Politiker in Europa müssen begreifen, dass sie Strukturen und Moscheen schaffen müssen, in denen liberale Muslime ihren Glauben sicher praktizieren können, auch unter Polizeischutz. Stattdessen unterstützen sie konservative Verbände und Moscheevereine, die unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit radikale Ansichten predigen. Dieser Missbrauch der Religion muss verboten werden. Was in Deutschland übrigens gerade passiert, aber es braucht erst jemanden, der ein Kalifat fordert.
In der Schweiz wird diskutiert, ob staatliche Universitäten Imame ausbilden sollen. Was halten Sie davon?
Das ist längst überfällig. Die Schweiz sollte die Hoheit darüber haben, was in ihrem Land gelehrt und gelernt wird. Egal, um welche Religion es sich handelt. Deshalb sollte der Staat dafür auch keinen Rappen aus dem Ausland annehmen.
Sie sind die erste Imamin in Deutschland. Wie sieht Ihr Gottesbild aus?
Ich bin nicht die erste Imamin. Ich bin lediglich die erste Frau, die eine liberale Moschee eröffnet hat. Die anderen Imaminnen leiten nur Frauen und Kinder, ich leite eine gemischte Gemeinde. Mein Gottesbild ist stark geprägt von meiner Nahtoderfahrung und dem, was mir meine Eltern über den Islam vermittelt haben. Gott ist für mich die Übermacht, die grenzenlos ist, was sich in den 99 Namen Gottes und dem einen Namen, den niemand kennt, widerspiegelt. Gott hat Eigenschaften wie Barmherzigkeit, Liebe und Stärke. So ist mein Gottesbild sehr universell. Als ich angeschossen wurde, sah ich mich auf dem Boden liegen und hatte eine Art spirituelles Gespräch darüber, ob ich in dieses Leben zurückkehren oder ins Licht gehen wollte. Ich war in diesem Licht und in einem absoluten Glücksgefühl. Für mich hat dieses Gespräch mit Gott stattgefunden, obwohl ich Schwierigkeiten habe, seinen Namen auszusprechen.
Die Ehrfurcht vor dem Namen Gottes kennen Juden, Christen und Muslime. Auch sonst haben die drei abrahamitischen Religionen viele Gemeinsamkeiten. Dennoch bekämpfen sie sich seit Jahrtausenden. Was braucht es, um sie zusammenzubringen?
Mehr Begegnungen und viel mehr Austausch über das, was uns verbindet. Deshalb pilgere ich interreligiös auf einem christlichen Weg, der längst nicht mehr christlich ist. Wir haben so viele gemeinsame Grundlagen, wir teilen die Propheten, Adam und Eva oder Hagar in der Wüste, auch wenn wir die Geschichten etwas anders erzählen. Es ist absurd, dass sich die drei Religionen bekämpfen.
Sie hatten eine schwierige Jugend und haben mit 17 Jahren Ihre Familie verlassen. Inzwischen haben Sie sich wieder mit Ihrer Familie versöhnt. Was ist passiert?
Vergebung ist ein grosses Thema. Ich wünsche mir Frieden und Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben. Ich will nicht zu viel Last und Kummer mit mir herumtragen. Ich habe mit meinen Eltern gesprochen und gelernt, ihnen direkt zu sagen, was mich verletzt hat. Meine Eltern konnten auch sagen, Kind, weisst du, wie es uns geht. Mein Vater konnte weinend in die Kamera sagen, dass es ihm leid tut, was er seiner Tochter angetan hat. Und ich habe ihm gedankt und gesagt, Papa, ich kann dich verstehen, so bist du aufgewachsen, so bist du als Mann erzogen worden.
Sie haben einander vergeben?
Ja. Ich habe gelernt, mich nicht an den schmerzlichen Momenten der Vergangenheit abzuarbeiten, sondern an den glücklichen. Lange war mein Vater mein grösster Fan, er hat die türkischen Zeitungsartikel, in denen ich mich über Zwangsheirat und Ehrenmorde äusserte gesammelt. Er hat gesehen, dass ich keine schlechte Frau, sondern ein guter Mensch geworden bin und dass er seinen Anteil daran hat. Das habe ich ihm auch zurückgespiegelt. Leider ist er 2014 gestorben, bevor ich die Moschee eröffnet habe.
Ist die Liebe stärker als aller Fundamentalismus?
Ja, die Liebe ist viel stärker. So naiv es klingt, ich würde Menschen gerne nur mit Liebe überschütten. Wenn wir schon einen Kampfbegriff benutzen, dann wäre es jenen, die Menschen mit Liebe zu erschlagen. Nur so können wir letztlich gewinnen.
«Die Liebe ist viel stärker als aller Fundamentalismus»