News aus dem Kanton St. Gallen

Die Erde ist kein lebloses Objekt

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19.02.2018
«Wir stehen an einem kritischen Punkt der Erdgeschichte, an dem die Menschheit den Weg für ihre Zukunft wählen muss. … Wir haben die Wahl: Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten.»

Dies steht im Vorwort der Erdcharta, einem von der Unesco mit Beteiligung fast aller Völker verabschiedeten Dokument. Ähnliche Warnungen haben der ökumenische Rat der Kirchen und Papst Franziskus in der Enzyklika «Laudato Si’ und die Sorge um unser gemeinsames Haus», vorgetragen.

Es gibt keine Arche Noah mehr
Die Botschaft ist klar: Wir müssen etwas ändern in unserer Beziehung zu Natur und Erde, in unserer Produktionsweise, unseren Konsumgewohnheiten und letztlich in unserem Bewusstsein und in unseren Herzen. Diesmal gibt es nicht mehr eine Arche Noah, die einige retten kann und die anderen zugrunde gehen lässt. Entweder retten wir uns alle oder wir gehen einer unvorstellbaren sozio-ökologischen Katastrophe entgegen. Was ist zu tun, welches sind die entscheidenden Punkte für die Zukunft?

Die Erde als Grossorganismus
Zunächst müssen wir eine andere Sicht von der Erde annehmen und diese nicht als lebloses Objekt anschauen, über das wir nach Gutdünken verfügen können. Der moderne Mensch empfindet sich als «Herr und Besitzer» («maître et possesseur» nach Descartes) der Erde, als über ihr stehend und nicht als Glied der grossen Gemeinschaft des Lebens (Natur). Das ist eine überholte Auffassung. Für viele Wissenschaftler, Kosmologinnen und Biologen ist die Erde nicht einfach eine tote Bühne, auf der das Leben stattfindet, sondern ein lebendiger Grossorganismus, der ständig Physisches, Chemisches und Ökologisches in einer Weise artikuliert, dass er immer neues Leben hervorruft und reproduziert. 2009 billigte die Generalversammlung der UNO nach einer langen Diskussion einstimmig den Gedanken, die Erde als Mutter zu bezeichnen. Das ist revolutionär für unsere Sichtweise des Planeten und unser Verhältnis zu ihm. 

«Von einer Marktwirtschaft sind wir zu einer Marktgesellschaft geworden. Alles wird eine Ware.»

Es ist eine Sache, von der Erde zu sprechen, die – wenn es uns gelegen erscheint – gekauft, verkauft und wirtschaftlich ausgebeutet werden kann. Es ist eine andere Sache, von der Mutter Erde zu reden, denn die Mutter kann man nicht verkaufen, kaufen oder ausbeuten, sondern vielmehr sollte man sie lieben, ehren und für sie sorgen. 

Der Mensch als Teil der Erde
Um diese neue Perspektive von der Erde in unserem Verständnis der Wirklichkeit anzunehmen, müssen wir das noch dominierende Paradigma zu überwinden suchen. Der westliche Mensch betrachtet die Erde nämlich nicht als die grosse Mutter der Griechen und Römer, die Pachamama der Indigenen aus den Anden oder die Nana des Ostens; auch in der Bibel ist die Verbindung des Menschen zur Erde übrigens eng, stammt doch der Mensch selber aus dieser adamah (Gen 2,7; Jer 18,6). Vielmehr sieht er die Erde als ein Reservoir von Ressourcen und natürlichen Gütern, die er benutzen und anhäufen kann.

Wir sind im Anthropozän 
Es handelt sich um das Paradigma der Ausbeutung der Natur und der Eroberung von anderen Völkern, das seit dem 17. Jahrhundert herrscht. Die Konsequenzen davon sind die heutige ökologische und zivilisatorische Krisis. Die physikalisch-chemische Grundlage der Reproduktion des Lebens ist gefährdet. Einige Wissenschaftler haben sogar ein neues geologisches Zeitalter eingeführt mit dem Namen Anthropozän, in dem gerade der Mensch als grosse Gefahr für die Zukunft des Lebens auftritt. Das Zeugnis der Astronauten aus ihren Raumschiffen geht in eine andere Richtung. So bezeugte Russell Schweickart: «Wenn du die Erde von ausserhalb siehst, dann bemerkst du, dass all das, was für sie wichtig ist – die gesamte Geschichte, die Kunst, die Geburt, der Tod, die Liebe, die Freude, Tränen –, in diesem kleinen weissen und blauen Punkt enthalten ist, den du mit deinem Daumen verdecken kannst. … Das Verhältnis [ist] nicht mehr so, wie es früher gewesen ist. Die Erde erscheint als etwas Lebendiges.» Isaac Asimov, ein Schriftsteller zu Themen der Kosmologie, benannte 1982 als Vermächtnis der bisherigen Erfahrungen der Raumfahrt die «Einsicht, dass von den Raumschiffen aus gesehen die Erde und die Menschheit eine einzige Entität bilden». 

Wir sind nicht einfach Passagier
Das will heissen, dass wir beide – Erde und Menschheit – ein einziges, komplexes, in sich vielfältiges Wesen sind. Das bedeutet auch, dass der Mensch kein umherirrender Wanderer, kein Passagier ist, der von anderswo herkommt und anderen Welten angehört. Nein, er ist Sohn bzw. Tochter der Erde. Ja mehr noch: Er ist die Portion der Erde, welche in einem sehr komplexen Moment ihrer Evolution angefangen hat zu denken, zu lieben und zu achten. Er/sie ist die denkende, liebende, verehrende Erde. 

Kollektive Verantwortung 
Dem herrschenden Paradigma der Eroberung müssen wir das Paradigma der sorgfältigen Achtsamkeit oder der achtsamen Sorge gegenüberstellen und dieses weiterentwickeln, um die Erde zu schützen und die Zukunft unserer Zivilisation zu gewährleisten. Mit der Achtsamkeit gehen der Respekt gegenüber den Rhythmen der Natur und die kollektive Verantwortung allem Lebendigen und allen Wesen gegenüber einher. 

«Mit allem kann man Geld machen.»

Das beinhaltet auch ein Umdenken bezüglich der Verselbständigung der Wirtschaft gegenüber Regeln und Strukturen des sozialen
Lebens, wie sie schon 1944 der bekannte Wirtschaftler Karl Polanyi in seinem Buch «Die grosse Transformation» angeprangert hat. Von einer Marktwirtschaft sind wir zu
einer Marktgesellschaft geworden. Alles wird eine Ware, von den einfachen Dingen des Hauses bis zu den menschlichen Organen, die auf den Märkten von Kairo oder Bombay verkauft und gekauft werden. Mit allem kann man Geld machen. Das ist die grösste und die schamloseste Korruption, die heute in Brasilien und anderswo grassiert.

 

Text: Leonardo Boff | Bilder: Brot für alle und Fenitra Rabefaritra/Fastenopfer  – Kirchenbote SG, März 2018

 

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