Die durchgedrehte Diana
In Walenstadt blieb ich kürzlich verwundert vor einem Privatgarten stehen. Grund meines abrupten Stopps war eine Lärche im nadellosen Winterzustand. Mit den karamellfarbenen jungen Zweigen und den nach aussen gebogenen Zapfenschuppen gab sie sich zweifelsfrei als Japanische Lärche zu erkennen. Das war aber nicht alles. Statt stracks nach oben zu wachsen, leisten es sich die Sprossen des Exoten, sich mal links, mal rechts und mal im Kreise herum zu drehen, als hätten sie es nicht nötig, möglichst rasch ans Licht zu gelangen.
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Eine deutsche Baumschule preist die bizarre Gartenpflanze marktschreierisch als «Hingucker» an.
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Dabei ist doch bekannt, dass alle rund 20 bekannten Lärchenarten auf viel Licht angewiesen sind. Gehen wir davon aus, dass Wunder unerklärbare Ereignisse sind, die der menschlichen Vernunft und den Gesetzmässigkeiten der Natur zuwiderlaufen, dann ist im Garten der Walenstädter Villa ein Wunder geschehen.Â
Blick in die Kataloge
Ein Blick in verschiedene Baumschulkataloge holte mich wieder in die Realität zurück. Mir offenbarte sich am Südfuss der Churfirsten kein Wunder, sondern eine Bildungslücke, zumindest was die aktuellen Baumschulsortimente anbelangt. Die sonderbare Lärche können alle, die das möchten, in Gartencentern erwerben und in den Garten pflanzen. Ihr Name: Larix kaempferi «Diana». Eine deutsche Baumschule preist die bizarre Gartenpflanze marktschreierisch als «Hingucker» an. Zumindest bei mir hat sich das bestätigt.
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Schliesslich kann man vieles als zauberhaft empfinden – auch ohne an Zauberei zu glauben.
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Wenigstens der Spur nach kann ich darlegen, was den Zweigen der holzigen Diana Dauerwellen verleiht. Es ist eine Mutation: Gene, die an den Zweigen normalerweise für gleichmässig grosse Zellen und damit für gerade Zweige sorgen, verändern sich sprunghaft. In der Folge lassen sie unterschiedlich grosse Zellen zu mit dem Resultat, dass sich die Zweige in alle Richtungen verformen. Kein Wunder also, dafür Evolution live, abgespielt direkt vor meinen Augen. Vorausgesetzt, die neue Form könnte sich im Wettbewerb der Arten behaupten und sich fortpflanzen, wäre dies die Geburtsstunde einer neuen Art. In der Entwicklungsgeschichte der Gefässpflanzen spielte sich dies auf unserem Planeten schon rund 300 000-mal ab. Würde die «durchgedrehte Diana» nicht von Gärtnerinnen und Gärtnern durch Veredelung vermehrt, wäre sie wie die meisten Mutationen bald wieder vom Erdboden verschwunden. Keine neue Art also in Walenstadt, sondern ein Irrweg der Evolution, genauso wie die bekannten Korkenzieherformen bei den Haselsträuchern, Weiden oder Robinien. Auch sie sind lebende Aushängeschilder unserer Gärten, die Wunderfitze wie mich bisweilen zu Zwischenhalten animieren.
Schauspiel der Natur als Wunder
All diese Tatsachen sollen niemanden davon abhalten, Lärchen als wunderschöne Lebewesen zu achten. Der hellgrüne Austrieb der Nadeln im Frühling, meist zusammen mit den gelben männlichen und den roten weiblichen Blütenständen, ist schlicht überwältigend. Wie auch der Laubfall im Herbst, wenn sich die Nadeln goldgelb verfärbt haben. Oder genauer gesagt, wenn beeinflusst durch abnehmende Tageslängen und Temperaturen, Phytohormone verwertbare Stoffe von den Nadeln in die Sprossachsen zurückziehen, sodass gelbe Farbpigmente zum Vorschein kommen, die bis anhin vom Blattgrün überdeckt waren. Wer im Oktober Lärchenwälder aufsucht, sei es im Engadin, in den Weiten Sibiriens oder in den vulkanischen Gebirgen Zentraljapans, wird ob so viel Schönheit ergriffen sein. Warum dieses Schauspiel nicht als Wunder der Natur bestaunen? Schliesslich kann man vieles als zauberhaft empfinden – auch ohne an Zauberei zu glauben.
Text | Foto: Hanspeter Schumacher, Wattwil – Kirchenbote SG, Mai 2021
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Die durchgedrehte Diana