News aus dem Kanton St. Gallen

Die Belastung hat eindeutig zugenommen

von Stefan Degen
min
26.06.2024
Der steigende Termindruck setzt den Menschen zu. Insbesondere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist schwierig. Doch nur mit einer effizienteren Organisation lässt sich das Problem nicht lösen. Gewisse Berufsgruppen sind besonders gefährdet.

«Konzentriere ich mich auf meine Familie, so verliere ich im Beruf den Anschluss», sagt Diana. «Verfolge ich aber meine beruflichen Ziele, so leidet die Beziehung zu den Kindern. Und mache ich beides, so verliere ich mich selbst.» Das Dilemma der jungen St. Galler Mutter dürfte vielen Eltern bekannt vorkommen. Die Klagen über die hohe Belastung durch Arbeit und Familie nehmen zu, macht es den Anschein.

Stimmt dieser Eindruck? Oder jammern die Menschen heute einfach mehr als früher? «Die Belastung hat eindeutig zugenommen», stellt Stefan Paulus klar. Der Sozialwissenschaftler der Fachhochschule Ost ist diesen Fragen mit mehreren Forschungsstudien nachgegangen. «Es lässt sich statistisch belegen, dass die Arbeitsprozesse beschleunigt wurden und der Zeitdruck zunimmt.» Besonders belastend sei es, viele Dinge gleichzeitig erledigen zu müssen. «Das ist wie beim Computer: Irgendwann ist der Arbeitsspeicher voll und es geht gar nichts mehr.» Wichtig seien aber auch das Arbeitsklima und die Atmosphäre im Betrieb. «Hilfreich ist Mitbestimmung bei Arbeitszeiten und Arbeitsprozessen.» Es sei Gift, wenn die Arbeit nicht gut organisiert sei und wenn die Vorgesetzten nicht gut kommunizieren. «Das ist quasi ein Garant, dass es zur Belastung kommt.»

Es gibt die Vorstellung, dass man alles nur gut organisieren muss. Ich muss leider sagen: Das ist Blödsinn.

Mit Stress im Beruf allein können viele Menschen umgehen. Eine Erwerbsarbeitsbelastung alleine führe in der Regel nicht zu einem Burn-out oder einer Erschöpfungsdepression, sagt Sozialwissenschaftler Paulus. Meist kämen weitere Belastungen hinzu. Wie bei Diana, die in ihrer freien Zeit immer für die Kinder schaut.

Beten hilft

Das führt dazu, dass man nirgends ganz bei der Sache ist: Bei der Arbeit sorgt man sich um die Familie und zu Hause kreisen die Gedanken um die Arbeit. Dieses gedankliche «Hin-und-her-Switchen», wie Paulus es nennt, sei verbreitet und sehr belastend. «Wir haben in einer Studie untersucht, wie oft man am Tag gedanklich hin- und herswitcht. Das ist weit über 60 Mal – und die Dunkelziffer ist hoch.» Deswegen sei auch das Gebet so wichtig: «Das Gebet ist ein Moment des Innehaltens, des Stillseins, des Nach-innen-Schauens. Man achtet nicht darauf, was von aussen auf einen einströmt. Das gibt Ruhe und Entspannung.»

Anteil der Befragten, die das Gefühl haben, überlastet zu sein und Schwierigkeiten zu haben, die verschiedenen Aktivitäten unter einen Hut zu bringen. Erwerbstätige Personen im Alter von 25 bis 54 Jahren mit Kindern unter 25 Jahren im Haushalt. Bei Männern ist eine Differenzierung nach Pensum nicht möglich wegen der geringen Zahl von Teilzeiterwerbstätigen. Quelle: BFS – Erhebungen zu Familien und Generationen, 2021.

 

Möglich ist, dass das Hin-und-her-Switchen auch mit dem Aufweichen traditioneller Rollenbilder zu tun hat. Während es vor Jahrzehnten üblich war, dass der Vater zu 100 Prozent erwerbstätig war und die Mutter sich um die Kinder und den Haushalt kümmerte, teilen sich heute viele Eltern Erwerbs- und Familienarbeit auf. So hat der Anteil der Teilzeiterwerbstätigen laut Bundesamt für Statistik in den letzten 30 Jahren um die Hälfte zugenommen. Für Stefan Paulus steht aber eine andere Ursache für den Stresszuwachs im Vordergrund: «Früher gab es mehr Jobs, bei denen man von 9 bis 5 Uhr gearbeitet hat. Und wenn man am Abend das Geschäft verliess, war wirklich Freizeit.» Heute hingegen gebe es eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, beflügelt vom Home-office-Trend. Stets müsse man für das Geschäft erreichbar sein, nie könne man ganz abschalten – selbst in den Ferien werden noch die E-Mails gecheckt.

Nicht nur Eltern betroffen

Was soll man denn tun, um die Work-Life-Balance zu verbessern? «Es gibt die Vorstellung, dass man alles nur gut organisieren muss», sagt Paulus. Wenn man die Arbeit und die Sorgearbeit nur effizienter gestalte, lösten sich die Probleme von selbst. Doch das stimme nicht. «Ich muss leider sagen: Das ist Blödsinn. Man kann Kindern nicht schneller zuhören, man kann sie nicht schneller trösten. Man kann einen Gutenachtkuss und eine Gutenachtgeschichte nicht beschleunigen.» Trösten, zuhören, für die Kinder da sein brauche einfach Zeit. «Das kann man nicht effizienter gestalten.» 

Erwerbstätige Personen zwischen 18 und 64 Jahren mit mindestens einer regelmässigen Betreuungsaufgabe. Quelle: BFS – Schweizerische Arbeitskräfteerhebung, «Modul Vereinbarkeit und Familie», 2020.

Erwerbstätige Personen zwischen 18 und 64 Jahren mit mindestens einer regelmässigen Betreuungsaufgabe. Quelle: BFS – Schweizerische Arbeitskräfteerhebung, «Modul Vereinbarkeit und Familie», 2020.

 

Doch auch Erwerbstätige ohne Kinder leiden unter der Belastung. Thommy zum Beispiel, IT-Systemtechniker im Rheintal, ächzt unter dem Druck seiner Firma. «Alles hat immer oberste Priorität», klagt er. Zudem könne er schlecht Nein sagen. Er arbeitet oft bis spät in der Nacht. «Die Arbeit ist so intensiv, dass ich plötzlich erschrocken auf die Uhr schaue und merke, dass bereits 11 Uhr abends ist und ich noch gar nichts gegessen habe.» Dass er mehrheitlich von zu Hause aus arbeitet, erschwert die Abgrenzung zusätzlich. Hinzu kommt, dass seine Mutter seit zwei Jahren krank ist, er sich oft um sie kümmert und sie bei Bedarf in den Spital fährt.

Polizei und Pflege gefährdet

Gibt es Branchen und Berufsgruppen, die besonders gefährdet sind? «Laut Statistiken nimmt die Belastung in allen Branchen zu», sagt Paulus. Hoch sei sie dort, wo Selbstständigkeit weit verbreitet sei, etwa in der Landwirtschaft. Gefährdet seien auch Tätige im sozialen Bereich: bei der Polizei, im Kindergarten, im Pflegebereich. «Tragisch ist, dass man in diesen helfenden und schützenden Berufen eigentlich den Menschen und der Gesellschaft etwas Gutes tun will, oft aber auch mit schwierigen Klienten zu tun hat und aufgrund des Zeitdrucks dem eigenen Selbstbild nicht gerecht wird.» Wenn man nur eine oder zwei Minuten Zeit habe, um einen Klienten zu waschen, sei das unmenschlich und unbefriedigend – auch für das Personal. So werden oft gerade diejenigen aufgrund der Belastung krank, die sich viel um andere Menschen kümmern.

Psychische Gesundheit stärken

Was also ist zu tun? «Wichtig ist, klarzustellen, was eigentlich psychische Gesundheit ist», sagt Stefan Paulus. «Das ist nicht etwas, was man einfach so hat. Man muss sie herstellen, man muss sie entwickeln, man muss sie pflegen.» Es zähle zur psychischen Gesundheit dazu, dass man Zeit mit anderen Leuten verbringe, dass man an der Gesellschaft teilhabe. «Wenn ich genau dann arbeiten muss, wenn meine Freunde in den Gottesdienst gehen oder eine Skitour machen, dann belastet mich das.» Deshalb brauche es gemeinsame Zeitinseln zur Stärkung der psychischen Gesundheit.

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«Weltoffen» wäre ein gutes Attribut, um zu beschreiben, wie Cornelia Kupi tickt und wie sie die Tagesstruktur Allee in Wil leitet. Geboren in Wien, kam «Conny» einst beim Reisen in Neuseeland, als sie als Nanny jobbte, auf den Geschmack, Kinder zu betreuen.