News aus dem Kanton St. Gallen

«Die Armee ist keine Mordtruppe»

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22.12.2020
Der katholische Armeeseelsorger Stefan Staub aus Teufen AR nimmt Stellung zum sechsten Gebot: «Du sollst nicht töten!»

Sind mit «Du sollst nicht töten» nur Menschen oder alle Lebewesen gemeint?

Stefan Staub: Im Zusammenhang mit den Zehn Geboten sind aus geschichtlicher Sicht die Menschen gemeint. Im Kontext der damaligen Zeit war dieses Gebot bereits ein Schritt in Richtung Menschlichkeit: Man darf einem Menschen das Leben nicht einfach so nehmen; im Sinne von der «Stärkere kann sich alles erlauben». In der ursprünglichen Form ist «morden» erwähnt.

Im Alten Testament werden Blutrache, Todesstrafe, Krieg, Tieropfer gefordert. Wie lässt sich das vereinbaren?

Das Alte Testament ist rund 3000 Jahre alt. Es ist eine Art Geschichtsschreibung des jüdischen Volkes. Das israelische Volk musste sich im «Hexenkessel» der kulturellen Einflüsse im kleinen Israel wehren. Darum sah man in religiös motivierten Kriegen oder Todesstrafen keine absolute Untat. Die rituellen Opfer sind zu sehen, wie die Menschen Gott sahen. Da war wenig vom «lieben Gott» spürbar, sondern vom Gott, der gibt und der nimmt. Mord war aber immer eine Todsünde.

Es gibt Bibelstellen, in denen explizit zum Töten aufgefordert wird. Sie stehen im Widerspruch zum Tötungsverbot. Haben Sie deswegen keine Bedenken?

Das Alte Testament ist ein Buch der Gegensätze. Im Unterschied zum Neuen Testament lese ich die meisten Schriften des Alten Testamente immer mit einem historisch-kritischen Blick. Es ist kein «Rezeptbuch» für die heutige Zeit.

Auch die Kirchen haben getötet: Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden «Hexen», Juden und «Ketzer» verbrannt. Wie wurde dieser Widerspruch zum sechsten Gebot gerechtfertigt? 

Der ist gar nicht zu rechtfertigen. Was man in der Zeit der Kreuzfahrer, Inquisition und der Eroberung der «Neuen Welt» im Namen Gottes getan hat, ist eine Missachtung des Neuen Testaments, das ein Quantensprung in Sachen Sühne, Vergebung und Neuanfang ist. Jesus hat die Zehn Gebote neu interpretiert. Deshalb waren und sind Tötungen im Namen des Christentums abgrundtiefe Sünde. Da gibts nichts schönzureden.

Ist das sechste Gebot mit der Armee in Einklang zu bringen?

Eine nicht einfach zu beantwortende Frage: Die Armee ist per se keine Mordtruppe. Ein Land, das mit der eigenen Armee seine Bewohner schützen und die Werte verteidigen will, ist keine unmoralische Angelegenheit. Wenn aber eine Armee für Eroberungen, geostrategische Machtspiele und als Instrument für ethnische «Säuberungen» eingesetzt wird, dann wird sie zur Handlangerin des Bösen.

Haben Armeeangehörige (AdA) Bedenken, Töten zu lernen und gibt es welche, die aus Gewissensgründen keinen Dienst leisten wollen?

Ja – das gibt es. Und niemand darf gegen sein Gewissen zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden – auch nicht im Verteidigungsfall. Gute Armeeseelsorgerinnen und -seelsorger spüren das im Gespräch und suchen einen Weg in dieser Klärungsphase.

Gibt es Suizide aus Schuldbewusstsein?

Motivationen für eine Suizid gibt es viele  Oft sind es existenzielle Überforderungen mit dem Leben, die jemanden antreiben, aus dem eigenen Leben auszusteigen durch einen endgültigen Schlussstrich. Ich schliesse nicht aus, dass jemand sein Leben aufgrund einer angestauten Schuld beendet.

Wie stehen Sie zu Suiziden?

Sie berühren mich auf besondere Weise. Allein in diesem Jahr musste ich die Bestattung von drei Menschen gestalten, die sich umbrachten. Die Geschichten dahinter sind immer tragisch. Jene, die gehen, entziehen sich einem Leid, das sich schleichend um ihr Leben gelegt hat. Jene, die zurückbleiben, haben tausend Fragen oder machen sich Vorwürfe. Es ist dann eine Herausforderung, aufzeigen zu können, dass das Umfeld wenig beitragen kann, um jemanden vom Suizid abzuhalten.

Die Suizidraten in Appenzeller Innerrhoden, aber auch in Ausserrhoden und im Toggenburg, in eher gottesfürchtigen Gegenden, sind ziemlich hoch. Sehen Sie Gründe dafür?

Ob die Appenzeller und Toggenburger gottesfürchtiger sind, als die andern, bezweifle ich. Vielleicht haben Kirchen eine grössere Bedeutung. Ich sehe die Gründe eher in der topgrafischen Lage. Die Landschaft prägt die Menschen. Man sieht nicht über den Berg und über Probleme zu reden, ist eine Fähigkeit, die nicht alle beherrschen.

Wieso ist die Suizidrate von Männern so viel höher als jene von Frauen?

Vermutlich, weil Männer tendenziell weniger über die eigene Befindlichkeit reden als Frauen. Das erlebe ich in der Seelsorge täglich.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts legte der Vatikan fest, dass ein Mensch bereits bei der Befruchtung entstehe. Damit wurde Schwangerschaftsabbruch zum Mord. Gibt es Ausnahmen?

Es gibt zwei Realitäten: die lehramtlich-kirchenrechtliche, die jede Indikation ablehnt. Und es gibt die pastorale Realität, die den Menschen in den Vordergrund stellt und nach einer Lösung sucht. Wenn nach reiflicher Abwägung jemand dazu kommt, dass es besser sei, die Schwangerschaft zu unterbrechen, dann ist das ein persönlicher Gewissensentscheid. Die katholische Kirche lehrt ebenso, dass das persönliche Gewissen die höhere Priorität habe, als kirchliche Dogmen. Gott hat vermutlich andere Massstäbe als die Kirche

Kann eine Tötung durch Absolution gesühnt werden?

Kommt drauf an, was man unter Absolution versteht. Die Absolution gehört zur katholischen Beichte. Das ist jeder Moment, wo der Priester die Vergebung von Gott zuspricht. Ob im Seelsorge- oder im Beichtgespräch: Ein Mensch, der eine Tat oder eine Nicht-Tat bereut, kann von Gott Vergebung erwarten. Eine Absolution zu empfangen, ohne seine Tat zu bereuen, ist nichts wert. Absolution sühnt keine Tat, sondern allein die Reue, die der Absolution vorangeht.  

Gibt es Rechfertigungsgründe für eine Tötung beispielsweise in Notwehr - oder die Tötung eines Täters durch die Mutter, deren Kind getötet wurde?

Es gibt keine nachträglichen Rechtfertigungen für die Tötung eines Menschen. Es gibt aber das «erlaubte» Töten in Notwehr oder der bewusst herbeigeführte Tod eines Despoten oder Tyrannen. Die Moraltheologie spricht vom «Tyrannenmord». Das heisst also, hätte einer der versuchten Anschläge auf Adolf Hitler geklappt, wäre der Mord Hitlers nicht ein Mord im klassischen Sinn. Es wäre ein Übel gewesen moralisch vertretbar, das ein grösseres Übel verhindert hätte, nämlich den Genozid an der jüdischen Bevölkerung Europas, und das durch seinen «totalen Krieg» hervorgerufene Leid in Europa. Jemanden aber aus Rache nachträglich umzubringen, ist keine Notwehr sondern einfach Mord, der moralisch falsch ist.

Interview: Margrith Widmer, Journalistin BR, Teufen | Foto: zVg | Illustration: Sandra Künzle, St. Gallen – Kirchenbote SG, Januar 2021

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