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Der Sohn der Freiheit

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01.01.2016
Aus Jerusalem und Berlin nach St.Gallen: Der 79-jährige Tovia Ben-Chorin ist weitgereist. Der eigenständige Denker ist mit seinem interreligiösen Engagement in der religiösen Welt sehr geschätzt. Er erklärt, warum er Atheisten mag und was er vom Staat Israel erwartet.

Tovia Ben-Chorin hat eine Biographie mit vielen Szenen aus der Weltgeschichte. Sein Vater emigriert 1935 aus Deutschland nach Jerusalem und der ein Jahr später geborene Tovia erlebt als Jugendlicher 1948 die Gründung des Staates Israel. Er wird Panzersoldat und 1964 zum liberalen Rabbiner ordiniert. Seine Tätigkeiten führen ihn in die USA, England, Israel, Deutschland und die Schweiz. Zuletzt ist er Rabbiner in Berlin, zuvor 13 Jahre in der liberalen Jüdischen Gemeinde Zürich. Er bekommt Ehrungen für sein interreligiöses Engagement. Und er ist der Sohn des berühmten Vaters Schalom Ben-Chorin, der mit seinen Büchern zu Jesus, Paulus und Maria die christlichen Portalfiguren in einen Dialog mit dem Judentum bringt.


Mensch als «Partner von Gott»
Und nun ist Tovia Ben-Chorin neuer Rabbiner der Jüdischen Gemeinde St.Gallen: ein 79-Jähriger voller Energie. Eine Stunde Gespräch mit ihm ist eine Reise durch das 20. Jahrhundert mit der Katastrophe des Holocaust, zu theologischen Fragen wie der Auferstehung der Toten, zu Denkern wie Martin Buber. Aber er weiss auch Bescheid über den neuen Judas-Roman von Amos Oz. Er sagt Sätze wie: «Ich glaube an die Kraft des Wortes. Die Worte der Propheten Israels haben heute eine Verbreitung, die sich die Propheten nie erträumt hätten.» Oder: «Die Atheisten habe ich besonders gern. Weil die wirklich mit Gott ringen.» Oder: «Ich gehöre einer jüdischen Minorität an, die an die Seelenwanderung glaubt.» Tovia Ben-Chorin ist ein geistreicher Gesprächspartner mit herzhaftem Lachen und anschaulicher Rede, er nimmt kein Blatt vor den Mund. Immer wieder dringt im Gespräch seine Haltung durch: Er will Respekt und Selbstverantwortung.
 
Natürlich ist das wichtigste Gesprächsthema mit einem Rabbiner die Bibel: die fünf Bücher Mose, die Propheten, und die weiteren Schriften. So unterteilen die Juden die Hebräische Bibel, welche die Christen das «Alte Testament» nennen. Wer mit Ben-Chorin spricht, merkt rasch: In der Interpretation der Bibel ist vieles im Fluss. Statt zu denken, dass das Heilige Wort unabänderlich vom Himmel gefallen sei, geht es für ihn um Diskussion und Dialog. Statt «Glaube» sagt Ben-Chorin lieber «Vertrauen», was der hebräischen Bedeutung des auf Deutsch mit «Glaube» übersetzten Wortes entspricht. «Vertrauen ist existenziell und hat auch mit Vernunft zu tun.»
 
Alle biblischen Geschichten haben für ihn eine existenzielle Wahrheit. So kommt aus der Schöpfungsgeschichte der Ruf zur Verantwortung: «Der Mensch ist verantwortlich für sein Handeln, er muss mit seiner Freiheit umgehen.» Diese Selbstverantwortung vermisst er beispielsweise in der Messiasvorstellung: «Das Messianische hat etwas sehr Passives – indem es erwartet, dass die Erlösung von jemand anderem kommt.» In einem Aufsatz, den die Kantonsbibliothek St.Gallen hat, führt er diese Position aus. Der Mensch ist in der neuen Zeit, in der Mensch, Natur und Gott in einem Gleich­gewicht sind, «Partner von Gott»: «Da wird nicht jemand zu uns geschickt, sondern es gibt von beiden Seiten aus einen Weg. Wenn wir anfangen, kommt von Gott eine Antwort.»
 
Wie die Seele wandern
Neben Unterschieden zwischen Judentum und Christentum gibt es auch verschiedene inner­jüdische Richtungen. Ben-Chorin: «Der Unterschied zwischen liberalem und orthodoxem Judentum kann man in der Rangordnung von Kult und Ethik zeigen. Bei der Orthodoxie ist der Kult am wichtigsten, im liberalen Judentum ist man überzeugt von einer Sache und daraus kommen die kultischen Handlungen.»

In St.Gallen ist der liberale Rabbiner Ben-Chorin in einer traditionell eingestellten Gemeinde, in der beispielsweise Frauen und Männer getrennt sitzen, tätig. Wie bringt er das zusammen? «Ich halte mich etwa bei der Sabbat­einhaltung an die Tradition der Gemeinde», sagt Ben-Chorin. Seine Toleranz führt ihn zu lebenspraktischen Kompromissen. Aber: «Ich muss keine Kompromisse schliessen bei dem, was ich glaube.» Sein Nachname bedeutet nicht umsonst «Sohn der Freiheit».
 
Eine eigene Haltung hat er eben zum Beispiel beim Thema «Leben nach dem Tod». Während die meisten liberalen Rabbiner von einer
«ewigen Existenz der Seele» sprechen, sagt Ben-Chorin: «Ich glaube an die Seelenwanderung, nämlich dass die Seele aus einer Art Reservoir von Seelen in einen Körper kommt, dorthin wieder zurückgeht und wieder in einen anderen Körper einzieht.» Er knüpft dabei an Traditionen aus der jüdischen Mystik an. Auch hier geht es um Selbstverantwortung: Der Mensch trägt seine Handlungen in der Seele in den verschiedenen Leben mit.
 
Prophetenrede – Mitte der Schrift
Auch wenn er sich mit solchen «ewigen» Themen beschäftigt, lebt Ben-Chorin stark im Heute. Zum Beispiel mit seiner Haltung zum Staat Israel, die aus seinem Bibelverständnis fliesst. Die Ethik der Propheten mit der sozialen Gerechtigkeit ist für ihn ihre wichtigste Botschaft. Was auch der Haltung der reformierten Theologie entspricht, wie er verschmitzt feststellt: «Das könnte man als das Protestantische in meinem Denken bezeichnen.» Die soziale Gerechtigkeit sieht er im heutigen Israel noch zu wenig verwirklicht. «In der Unabhängigkeits­erklärung des Staates Israel ist die Vision der Propheten verbindlich festgehalten. Es ist ein Wunder, dass das dritte Mal ein jüdischer Staat trotz Kriegen gegründet wird. Frieden kann nur durch Verhandlungen und Kompromisse erreicht werden. Als Rabbiner erwarte ich die Führung in diesem Prozess vom Staat Israel.»


Text: Daniel Klingenberg, St.Gallen | Foto: Michel Canonica  – Kirchenbote SG, September 2015

 

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