Der Rächer irrt rastlos durch eine erkaltete Welt
Ja, es gibt auch das, die kleine, die süsse Rache, die mit einem Augenzwinkern als kleine Retourkutsche zurückkommt, wenn man jemanden nicht ganz ernst genommen hat. Der 1.-April-Streich fällt in diese Kategorie. Ich wollte zum Beispiel nie ein Haustier. Schlechte Idee, wenn man zwei Kleinkinder hat, die tierlieb sind. Irgendwann dann ein väterliches Machtwort, und Schluss der Debatte. Doch eines Tages überfielen mich die Jüngsten mit der Botschaft, sie hätten ein Schweinchen gewonnen. Beim Viehmarkt. Die Begeisterung war derart, dass ich es bald glaubte und wir miteinander, notgedrungen, Ideen entwarfen, wie das kleine Mastvieh unterzubringen sei. Doch dann: «April, April!» Und die Erkenntnis: Machtworte sind unfair. Denn sie übersehen letztlich das Gegenüber. Sie kränken es. Rache enthält also im Kern einen Gerechtigkeitswunsch.
Zutiefst gekränkt
Dieses Gefühl ist keineswegs böse, sondern ein wichtiger Indikator, ein Signalgeber, der mahnt, Kränkungen gut wahrzunehmen und Versöhnung zu fördern. Doch diese wertvolle Seite der Rache darf nicht verschleiern, dass die Rache zugleich eines der destruktivsten menschlichen Gefühle werden kann. Ihr kann eine zerstörerische Kraft innewohnen, die Beziehungen in Trümmer legt, Menschen zur Sau zu macht und Leben vernichtet. Sie vermag gar den Rächer selbst in den Abgrund zu führen. Die meisten Amokläufe, die heute am TV und live ihre ambivalente Sogkraft entfalten, fallen in diese Kategorie.
Auch Terroristen, die töten, sehen sich im Recht.
Meist stellt sich heraus, dass sich der Täter zuvor in seinem eigenen Selbstbild beleidigt, in seiner Identität gekränkt oder beschädigt fühlte. Auslöser kann bereits eine Chefin sein, die unfair führt, der Partner, der demütigt, Umstände, die wehtun. Nährboden für Rachegefühle. Zumal, wenn sich die Auslöser häufen. Zumal, wenn die Persönlichkeit schwach ist und narzisstische, dissoziale oder emotional-instabile Anteile hat. Dem zahl’ ich’s heim, der kriegt’s retour! So wächst aus dem Wunsch, respektvoll behandelt zu werden, wilde Rachsucht, der jedes Mittel recht ist. Sie wird zur bösen Stiefschwester der Gerechtigkeit.
Recht in die eigene Hand nehmen
Schon bei Schillers «Wilhelm Tell» kann man das nachlesen: Als Stauffacher erfährt, dass der Habsburger König Albrecht von dessen Neffen ermordet worden ist, weiss er gleich, warum. Denn der Monarch hatte dem Zögling sein Erbe vorenthalten. «So beschloss er, da er Recht nicht konnte finden, sich Rach’ zu holen mit der eignen Hand». Rache hat die eigene Regelwelt zum Masstab. Darum sehen sich bis heute allenthalben nicht nur Staaten im Recht, wenn sie fremde Länder besetzen, sondern auch Terroristen, die töten, oder Demonstranten, die andere beschimpfen, bespucken und ihre Häuser verschmieren. Dahinter steht das immer gleiche Muster: das Gefühl, gekränkt und eigentlich im Recht zu sein und darum nun seiner Rachlust freien Raum geben zu dürfen.
Rache erzeugt neue Rache
Ich habe viel davon gesehen in meiner Zeit als Gefängnisseelsorger. Opfer ihrer Rache, oft. Ich erinnere mich aber genauso gut an einen Insassen, der anders war. Er hatte einen Gleichaltrigen im Ausgang so schwer getroffen, dass dieser zusammenbrach. Dabei schlug der Gleichaltrige mit dem Hinterkopf so unglücklich auf, dass er seitdem im Rollstuhl sitzt. Der Auslöser für den impulsiven Schlag war eine Kränkung. So, wie Zürcher und Basler sich schon mal unter der Gürtellinie zu beleidigen vermögen: banal, aber kränkend. Der junge Mann fühlte sich blossgestellt, gab seinem Rachegefühl nach und hockte sechs Jahre in der Kiste.
Werde Chef deiner Gefühle. Lege es in Gottes Hand.
Seine Rache machte ein kleines Recht zu grossem Unrecht, könnte man sagen. Er sah das so und wusste viel davon zu erzählen, dass ihm das Ausleben seiner Rache keinerlei Genugtuung brachte. Im Gegenteil: Selbstunsicherheit, Selbstverzweiflung, existenzielle Verlorenheit. Es setzte sogar neue Rachegefühle frei, bei den Angehörigen des Opfers. Verständlich, aber auch da teils überbordend. Wie ein Teufelskreis. Ich sehe das oft, auch als Reporter am Gericht. Dann kann Angehörigen kein Urteil der Welt streng genug sein. Ihr Rachegefühl ist berechtigt. Aber die Frage bleibt, ob das Ausleben ihres Gefühls geeignet ist, Frieden herzustellen, und sei es nur den eigenen Frieden. Da habe ich Zweifel.
Das Leben ist unfair und gemein
Diese Frage wird bereits auf den ersten Seiten der Bibel in Gen 4 gestellt. Rache ist das allererste, eben das urmenschliche Gefühl, das die Bibel ausdrücklich beim Namen nennt und reflektiert am Symbol des Brudermordes: Der eine sieht den Ertrag seines Lebens gewürdigt, der andere nicht. So ist das Leben. Unfair, gemein, einer kommt gross raus, der andere nicht. Die Reaktion: «Kain ergrimmte und senkte finster seinen Blick.» Was für eine treffende körpersprachliche Beobachtung und Beschreibung für die Befindlichkeit des Gekränkten!
Der junge Knacki fand Frieden, als er die Rache losliess und Gottvertrauen fand.
Wie ein drohendes Gewitter. «Herrsche darüber», mahnt Gott. Doch Kain lässt sich übermannen, gibt der Rachlust nach, tötet seinen erfolgreichen Bruder – und irrt in der Folge rastlos, haltlos, verloren durch eine erkaltete Welt. Ich habe viele Insassen vor Augen, die dieses Gefühl gut kennen. Existenzielle Verlorenheit. Man muss dafür aber nicht im Knast sitzen. Das gibt es auch draussen.
«Werde Chef deiner Gefühle»
Der Rachlust nachzugeben bringt keine Befriedigung, so die uralte Erfahrung der Bibel. Sie beflügelt vielmehr den Racheengel in uns. Also besser: «Herrsche darüber.» Das heisst: «Ändere deinen Sinn. Bleib kein Opfer. Übernimm das Szepter deines Lebens. Bleib du selbst und lass dich nicht übermannen von der Rachsucht, so berechtigt sie auch erscheinen mag.» Konkret: «Stärke dein Selbstwertgefühl. Damit nimmst du Kränkungen ihre zerstörerische Dynamik. Suche das offene Gespräch und lass dich nicht provozieren. Suche dir ein Ventil, Sport, Humor, Kunst. Mach dich grösser statt kleiner. Werde Chef deiner Gefühle. Leg es in Gottes Hand.»
Rachegefühl Gott übergeben
Vielleicht hilft dabei die Hoffnung einer Gerechtigkeit am Ende der Geschichte. Im 12. Kapitel des Römerbriefs heisst es: «Mein ist die Rache, spricht der Herr, ich werde vergelten.» Damit wird kein rachsüchtiges Gottesbild propagiert, wie sich oberflächliche Kritiker gerne mal erregen. Im Gegenteil. Dieser Satz hofft, dass Rache bei Gott besser aufgehoben ist als beim Menschen. Wohl nicht die schlechteste Idee, wie ein Blick auf den Mainstream der menschlichen Rachegeschichte beweist. «Lass deine Rache lieber los, gib sie ihm, bei ihm ist sie besser aufgehoben.» Das heisst «über sie herrschen».
Überirdischer Ausgleich
Auf diesen überirdischen Ausgleich zu vertrauen, auf die Versöhnung, da, wo wir am Ende sind, statt auf Gewalt – das durchbricht die Logik der Rache hier auf Erden, und es motiviert, über sie zu herrschen. Das bereitet schon hier den Boden der Versöhnung, wie mir jener junge Knacki einmal versicherte. Er fand Frieden, als er seine Rache losliess und Gottvertrauen fand. Schuldig, das war ihm immer bewusst, aber er suchte den Täter-Opfer-Ausgleich. So geht «herrschen über sich». Rache loslassen heisst automatisch sich versöhnen.
Text: Reinhold Meier, Journalist BR und Psychiatrie-Seelsorger, Wangs | Foto: Cigdem Ucuncu / Keystone – Kirchenbote SG, April 2020
Der Rächer irrt rastlos durch eine erkaltete Welt