Den Hauch des Heiligen «wahr» nehmen
Wir éstimieren herzliche Atmosphäre, gehobene Gemütslage, das Fluidum des Augenblicks. Kurz, wir achten auf einen ganz bestimmten Spirit. Denn Dinge und Image verblassen, wo der Hauch eines wohltuenden Geistes spürbar wird. Den Odem, nannte man das früher, belebende Präsenz sagt man heute. Er vermag ein Leben vom Kopf auf die Füsse zu stellen. «Es ist der Geist, der sich den Körper baut», erkennt schon Wallenstein in Schillers Drama. Er sagt’ s nicht umgekehrt. Denn wer jemand wirklich ist, zeigt sich daran, wes Geistes Kind er ist.
Grundhaltungen kennen ihren Grund
Damit lassen sich Ressourcen wecken, psychische Kraftreserven. Gute Seelsorge versucht darum, diesen Geist «wahr» zu nehmen. Das tönt zwar ein wenig altmodisch. Doch es meint nichts anderes, als professionell aufmerksam zu sein für den Spirit, in dem ein Leben gelebt wird. Heute wird in der Seelsorge darum oft von «Spiritual Care» gesprochen. Soll sagen, jeder Mensch, auch ohne Religion, wisse etwas davon, wie es ist, wenn er mit jeder Faser spürt, jetzt bin ich verbunden mit meinem Grund und belebt von diesem Geist. Solche Momente entstehen am ehesten, wenn mir einer in offener Grundhaltung begegnet, achtsam, aufmerksam, wertschätzend. Die Alten hätten gesagt, im Geist der Liebe. Denn sie wussten, dass solche achtsamen Grundhaltungen einen Grund haben, aus dem heraus sie erst wirksam werden. Diesen Grund haben die Denker der Bibel und der antiken Philosophie mit dem inneren Kern des Menschseins identifiziert. Sie nannten ihn Seele. Den Odem des Heiligen. Und die Sphäre seines Wirkens beschrieben sie in Bildern des Windes. Den sieht ja auch niemand, aber jeder sieht an den Blättern, wie er wirkt, der Hauch des Lebendigen.
«Kurz, wir achten auf einen ganz bestimmten Spirit.»
Spiritualität ernst nehmen
Sich dem zu nähern, was einen Menschen im Grunde bewegt, das ist Seelsorge. Achtsam mit dem umzugehen, was ihn bewegt, ist Seelsorge. Auch dem nachzuspüren, was einen vielleicht einmal bewegte und derweil verschüttet wurde, das ist Seelsorge. Und weil heute nicht nur Gläubige, sondern auch Menschen ohne Religion solche Grundhaltungen pflegen, üben und schätzen und zuweilen doch verlieren können, ist es gut, im weiteren Sinne von «Spiritual Care» zu sprechen, also von einer generellen Form der Achtsamkeit für die seelischen Ressourcen, die ein Leben zu tragen vermag und die über die konfessionelle Engführung hinaus ein weites Herz hat.
In den USA gehört solche Seelsorge oder eben die Spiritual Care weithin so fraglos ins klinische Behandlungsspektrum wie die Medizin, Pflege, Psychologie und Sozialarbeit. Warum auch nicht? In Europa erhielt Seelsorge das Dasein und Image eines Mauerblümchens – als Service für besonders Fromme, die am Krankenbett auch noch einen Pfarrer brauchen.
Lachen oder weinen?
In der St.Galler Kirche arbeiten gut zwei Dutzend Spiritual-Care-Spezialisten in Spitälern, Gefängnissen und Psychiatrien. Das sind akademisch versierte Theologinnen und Theologen mit psychologischem Zusatzdiplom. Sie haben natürlich alle ihre eigene, reflektierte Position innerhalb des christlichen Traditionsstroms. Doch sie haben zugleich unendlich viel Respekt für jede andere Form der Spiritualität, für das Heilige in einem Leben. Und sie haben das professionelle Handwerkszeug, Menschen darin zu unterstützen, diese, ihre eigene Spiritualität im Dialog wahrzunehmen, zu hinterfragen und zu entwickeln. Kurz, den Grund wahrzunehmen, der sie lebendig hält, im offenen Dialog.
Das geschieht nicht immer in gelöster Partystimmung, – am Lebensende nicht, im Knast nicht, in seelischer Krise nicht. Oft sind es bittere, unendlich schwere Momente, die da auszuhalten sind. Aber eben. Sie sind getragen von einer Grundhaltung, die die Alten pfingstlich nannten, bewegt von jenem Heiligen Spirit, dem Hauch des Lebendigen. Von dem, der zuweilen noch heute die scheue Frage stellt: «Willst Du mit mir gehen? Ja? Nein? Vielleicht?». Manchmal unter Tränen, manchmal unter Lachen. Und zuweilen unter beidem gleichzeitig.
Text: Reinhold Meier, Psychiatrie-Seelsorger und Journalist | Bild: Marlies Pekarek, St.Gallen – Kirchenbote SG, Juni-Juli 2017
Den Hauch des Heiligen «wahr» nehmen