«Demenz gehört zum gesellschaftlichen Leben dazu»
Jens Mayers Oma war an einem Sonntag im Winter auf einmal weg. Sie hatte sich an eine Bushaltestelle gesetzt. Doch der Bus fuhr nur Montag bis Freitag. Einige solcher Geschichten folgten – weniger schöne und schöne: Beide Grossmütter von Jens Mayer lebten mit einer schweren Demenz.
Demenz als ständige Begleiterin
Das ist über 30 Jahre her. Damals sprach noch kaum jemand über Demenz. Doch in Jens Mayers Leben war sie eine ständige Begleiterin. Seine Eltern gründeten eine der ersten Selbsthilfegruppen für Alzheimer-Angehörige in Deutschland. Vor acht Jahren hielten sie an einem Seniorennachmittag in Balgach einen Vortrag darüber, wie sich Demenz bei den Menschen spürbar macht. Eine Zuhörerin sprach danach ausgiebig darüber, dass sie Angst habe, selbst von Demenz betroffen zu sein. Sie ist dieses Jahr Ende Mai mit Demenz gestorben. Und ein Freund Mayers ist als 60-Jähriger bereits stark von Demenz betroffen.
Durch das Singen Ruhe finden
Es erstaunt deshalb nicht, wenn Jens Mayer sagt: «Demenz ist für mich etwas, das zum gesellschaftlichen Leben dazugehört. Es ist selbstverständlich, dass ich als Pfarrer viel damit in Kontakt komme.» Sei es durch Kirchenmitglieder, die man lange begleite, oder durch Menschen im Altersheim, die der Pfarrer regelmässig besucht, und wo er auch Predigten hält.
«Vielleicht bin auch ich einmal von Demenz betroffen. Angst davor habe ich nicht.»
Jens Mayer, Pfarrer in Balgach
«Gerade in der Coronazeit bin ich an manchem Sterbebett gesessen – auch von Menschen mit Demenz», erzählt Jens Mayer. Dann singe er. «Singen trifft und betrifft die Menschen. Bei ‹Grosser Gott, wir loben dich›, ‹So nimm denn meine Hände› oder ‹Es Buurebüebli mag i nöd› summen die Menschen teilweise gar noch mit – man spürt, dass sie sich entspannen und Ruhe finden.» Das sei ein schönes Zeichen. Die Spiritualität, das damit empfundene Gefühl, das die Menschen für den Glauben haben, aber auch das Brauchtum sind in diesen Momenten ein Anker. Singen ist eine Brücke.
Thema brennt unter den Nägeln
Diese Brücke und Nähe zum Betroffenen selber spüre Jens Mayer bei Begegnungen mit Menschen mit Demenz. Nicht, weil er als Pfarrer das Wort Gottes verkünde, sondern weil durch die Krankheit gewisse Sozialmechanismen nicht mehr griffen: «Wenn ich jemanden besuche, der im fortgeschrittenen Stadium mit Demenz lebt, weiss dieser nicht mehr, dass ich der Herr Pfarrer bin.» Mit einem Profi zu sprechen helfe deshalb den Angehörigen meist mehr als den Kranken selber. Da er stärker im Thema sei als andere Menschen, werde er oft um Rat gefragt.
«Als extrovertierter und hektischer Mensch spreche ich oft viel zu schnell und bin gedanklich an viel zu vielen Orten gleichzeitig», räumt Mayer ein. Bei der Begegnung mit Menschen mit Demenz habe er aber gelernt, beim Thema zu bleiben und auf die Bedürfnisse des Gegenübers zu achten. So auch im Kurs «Menschen mit Demenz begleiten», der kürzlich von der Kirchgemeinde Balgach angeboten wurde. «Dabei haben alle gespürt, dass das Thema bei der Bevölkerung unter den Nägeln brennt», so Mayer.
Wären die Tage doppelt so lange, gäbe es viele Bereiche, in denen er sich mehr engagieren würde. Die Arbeit mit älteren Menschen wäre bestimmt einer davon. Jens Mayer ist jetzt 53. Damit kommt auch er der Altersstufe näher, in der das Demenzrisiko zunimmt: «Vielleicht bin auch ich einmal von Demenz betroffen. Angst davor habe ich aber nicht.»
Text | Foto: Andrea Kobler, Journalistin, Marbach – Kirchenbote SG, Juli-August 2022
«Demenz gehört zum gesellschaftlichen Leben dazu»