Das Dilemma der Helfenden
«Wir haben uns zehn Jahre lang vor den Taliban versteckt und alles getan, um ihnen nicht zu begegnen. Das ist heute unmöglich», erklärt Michael Kunz. Ende September konnte der Präsident mit zwei weiteren Vertretern der Hilfsorganisation nach drei Jahren zum ersten Mal wieder in das Land reisen und ihre Projekte und örtliche Partner besuchen. Wenn Michael Kunz von dieser Reise berichtet, wird deutlich, was ihn bewegt: Die Menschen, die hungern und die Mädchen, die nicht lange genug zur Schule dürfen.
Die Afghanistanhilfe bleibt vor Ort
Seit die Taliban an der Macht sind, haben die meisten westlichen Hilfswerke das Land verlassen. Die Afghanistanhilfe ist geblieben. Sie stellt sich dem Hochseilakt, mit den Machthabern zu verhandeln, um ihre Projekte weiter zu betreiben: Waisenhäuser, Schulen und Spitäler in verschiedenen Regionen.
Es gibt gemässigte und radikale Vertreter des Regimes, je nach Glaubenshaltung beeinflusst dies die Politik der jeweiligen Region: «Es gibt nicht die Taliban», stellt Kunz fest. «Zwischen den verschiedenen Strömungen herrscht ein Machtkampf. Wir hoffen auf die Moderaten, mit denen können wir reden.» Man müsse die Taliban nicht mögen.
Über den eigenen Schatten springen
Oft muss Michael Kunz bei den Gesprächen über den eigenen Schatten springen. «Wir konzentrieren uns auf die Hilfe, die wir leisten, und versuchen das Maximum herauszuholen. Zum Beispiel verhandeln wir, dass Mädchen möglichst lange die Schule besuchen dürfen, Hilfspakete unter die Leute kommen oder Frauen weiterhin in Spitälern arbeiten können.»
Die Projekte der Afghanistanhilfe laufen grundsätzlich gut: «Die Taliban sind dankbar für das, was wir machen, vor allem im Gesundheitsbereich.» Den eingeschränkten Zugang zur Bildung, unter dem vor allem Mädchen leiden, oder das Verbot vom Sport- und Musikunterricht, findet Kunz verheerend.
Mit Begleitschutz unterwegs
In Gesprächssituationen drehte das Kopfkino: «Ich habe viele Freunde, die gefoltert wurden, verfolgt werden und Angst haben um ihre Familie. Und dann sitzt man einem Gouverneur gegenüber und versucht, ein freundliches Gespräch zu führen. Das ist ungemein schwierig.» Angst um sein Leben hat Kunz nicht gehabt. «Als Gäste wurden wir nie bedroht. Im Gegenteil, die Taliban versuchen uns zu zeigen, dass sie alles Griff haben.» Für bestimmte Situationen erhalten Kunz und seine Mitarbeiter Begleitschutz: «An den Kontrollpunkten stehen oft ungebildete Kämpfer aus den Bergen, die unsere Dokumente nicht lesen können, da könnte es gefährlich werden.»
Verschiedene Realitäten
Afghanistan sei ein Land mit verschiedenen Realitäten. «Nicht alle sind mit dem Machtwechsel unzufrieden», sagt Kunz. «Im Paschtunengebiet hat zwanzig Jahre lang Krieg geherrscht. Jetzt fühlen sich die Bewohner sicherer und sind froh, dass niemand mehr getötet wird.»
Ein anderes Bild zeigt sich für die Angehörigen der Hazara, einer Minderheit in Afghanistan: «Das Volk steht unter Schock und leidet unter dem Regime. Sie fürchten um ihr Leben und möchten aus dem Land fliehen.»
Armut und Hunger
Entsetzt zeigt sich der Präsident von der wirtschaftlichen Lage in Afghanistan, die sich seit der Machtübernahme dramatisch verschlechtert hat: «Frauen und Kinder betteln hungernd auf den Basaren, die Wirtschaft ist vollkommen zusammengebrochen. Es fehlt es nicht an Lebensmitteln, sondern an Geld.» Die Taliban seien unfähig, den Staat zu führen. Über Bildung verfüge nur die Elite. Wer auf dem Flughafen in Bamyan ankommt, wird nicht durchleuchtet. «Die Taliban finden den Knopf nicht, um die Geräte einzuschalten. Sie haben grosse Probleme mit allem Modernen.»
Wandel muss von innen kommen
Darin sieht Kunz eine Chance: «Meine Hoffnung ist, dass die Taliban einsehen, dass es wirtschaftlich nicht so weitergehen kann.» Durch die westlichen Sanktionen ist das Land auf sich allein gestellt. Kunz hofft, dass sich das Regime dazu bewegen lässt, den Minderheiten und Frauen Rechte zu geben, damit der Westen wieder auf das Land zugeht. Der Afghanistankenner glaubt nicht, dass man die Taliban von aussen bekämpfen kann: «Die Veränderung muss von innen kommen, dort muss der Wandel geschehen.»
Adriana Di Cesare, kirchenbote-online
Das Dilemma der Helfenden