«Das Aushandeln von gemeinsamen Werten ist ein ständiger Kampf»
Herr Feldhaus, im Vorfeld dieses Interviews haben Sie mir geschrieben, «christliche» Werte seien ein wichtiges Thema. Weshalb haben Sie «christliche» in Anführungszeichen gesetzt?
Ich glaube nicht, dass es explizit christliche Werte gibt. Nehmen wir die Nächstenliebe. Dann ist das, was dahintersteht, nämlich die Menschenwürde, nicht per se ein christlicher Wert. Man kann sie christlich begründen. Sie hat aber auch andere Grundlagen.
Welche Grundlagen?
Nehmen wir beispielsweise die Goldene Regel. Sie findet sich in fast allen Kulturen, in vielen religiösen Schriften: «Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.» Kant hat daraus das erste Prinzip des kategorischen Imperativs gemacht. Jesus wendet die Formulierung ins Positive, zumindest in der Überlieferung der Evangelisten: «Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun.» Er sagt nicht, was man unterlassen soll, sondern, was man tun soll.
Auch der christliche Glaube ist eine Grundlage für gemeinsame Werte.
Ja, eine ganz wesentliche. Das Leben der Menschen wird durch Prinzipien geregelt, zum Beispiel Gerechtigkeit und Solidarität. Solche Prinzipien basieren auf dem Grundwert der Menschenwürde: dass die Würde eines jeden Menschen unabdingbar schützenswert ist. Das hat Jesus in seiner Verkündigung immer und immer betont.
Eine andere Grundlage wäre die Aussage aus der Genesis, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist.
Ja, im biblischen Kontext lässt sich die Menschenwürde aus der Gottebenbildlichkeit ableiten. Das heisst: Man sieht in jedem Menschen das Ebenbild Gottes – also wirklich in jedem, egal, ob alt oder jung, arm oder reich, Mann oder Frau, Christ oder Nichtchrist.
Welche Bedeutung haben Werte für unsere Gesellschaft?
Ich glaube, dass das ganze Gemeinwesen – Institutionen, Vereine, Verbände und Familien – letztlich durch eine gemeinsame Wertebasis zusammengehalten wird.
Wer legt fest, welche Grundwerte in einer Gesellschaft gelten?
In einem demokratisch verfassten Staatswesen werden die letzten Werte, auf die man sich beruft, demokratisch ausgehandelt. Die Charta der Menschenrechte ist ja nicht irgendwie vom Himmel gefallen, sondern war das Resultat eines dialogischen Prozesses. Ebenso die Schweizer Bundesverfassung. Dabei spielen nicht nur einzelne Menschen eine wichtige Rolle, sondern auch Gemeinschaften: Vereine, Institutionen, Verbände. Auch die Religionsgemeinschaften.
Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen.
Nein, das Aushandeln der Grundwerte geht weiter, auch heute. Manche sagen: «Uns gehen die Werte verloren in der Gesellschaft, es gibt einen Kampf der Kulturen.» Ich sage: Ja, das stimmt, das Aushandeln von gemeinsamen Werten ist ein beständiger Kampf, und dem muss man sich stellen. Jeden Tag. Bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen beispielsweise handelt man täglich Werte aus.
Der Begriff der Menschenwürde ist Ihnen wichtig. Was sollen die Kirchen tun, um sich für die Menschenwürde einzusetzen?
Man setzt sich nicht für Menschenwürde ein, wenn man in seiner eigenen Insititution Menschen ungleich behandelt. Das Ausschliessen von homosexuell lebenden Menschen aus ihren Gemeinschaften, wie es in manchen Freikirchen praktiziert wird, ist aus meiner Sicht ein klares Bekenntnis gegen die Menschenwürde. Dabei argumentieren solche Gruppierungen oft ja gerade mit sogenannt christlichen Werten und bringen zum Teil sehr verkürzte biblische Zitate, um ihre Machtposition zu rechtfertigen. In der römisch-katholischen Kirche haben wir eine ähnliche Situation in Bezug auf Frauen, übrigens auch auf homosexuelle Menschen. Im Grunde übernimmt eine Institution ganz bewusst eine antijesuanische Position. Nach meiner Einschätzung vor allem um des Machterhalts willen. Die jesuanische Position hingegen war – und das ist klar belegt – die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Jesus hat Frauen aus dem privaten Bereich herausgeholt. Deswegen sind sie ihm gefolgt, bis unter das Kreuz. Die ersten Verkündigungsaufträge Jesu gingen an Frauen. Dass eine Kirche aufgrund von vermeintlich «christlichen» Werten Frauen aus Leitungsämtern ausschliesst, auch aus spirituellen Verkündigungsämtern, ist aus meiner Sicht ein Statement gegen die Menschenwürde.
Woran liegt das?
Sobald in einer Kirche Macht- und Hierarchiestrukturen aufgebaut werden, neigt man dazu, Gleichberechtigung und Gleichheit abzubauen. Beispiele in der Kirchengeschichte gibt es viele. Das gilt auch für die christkatholische und die reformierte Kirche. Und übrigens auch für andere Organisationen wie Gewerkschaften, Parteien und Unternehmen.
Sie bieten Ethikberatung für Unternehmen an. Welche Rolle spielen dabei christliche Werte?
Die Menschenwürde ist aus meiner Sicht der Ursprungswert schlechthin. Sie kann christlich begründet werden durch das Gebot der Nächstenliebe, der Selbstliebe und der Gottesliebe, das, wie Jesus im Markusevangelium sagt, alle Gesetze und Propheten vereinigt. Das ist aus meiner Sicht eine wesentliche Grundlage guter Unternehmensführung. Kurzfristig kann man als Unternehmen gegen diese Werte verstossen und unter Umständen dadurch sogar mehr Gewinn erwirtschaften. Aber langfristig kann man nicht gegen die Menschenwürde verstossen, wenn man erfolgreich sein will.
Dennoch gibt es Zielkonflikte. Sie gehörten zur erweiterten Konzernleitung von Roche. Ein Pharmakonzern muss die Entscheidung treffen, ob er mehr Mittel in die Erforschung vernachlässigter Krankheiten steckt oder in die Entwicklung von Abnehmspritzen.
Ich gebe ihnen recht, diese Werteauseinandersetzungen sind ein tägliches Thema. In der Regel gibt es dazu zwei Meinungen: die kurzfristige Nutzenmaximierung und die langfristige Nutzenoptimierung. Erstere will den finanziellen Erfolg kurzfristig steigern, ohne Rücksicht auf langfristige Folgen.
Und die langfristige Nutzenoptimierung?
Da muss man abwägen. Berücksichtig werden dabei langfristige Ziele, auch Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit. Ich habe viele Führungskräfte in vielen Unternehmen kennengelernt. Aber Menschen, die ausschliesslich am finanziellen Gewinn orientiert sind, kenne ich kaum.
Das heisst, die Führungskräfte nehmen ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr?
Das trifft insbesondere auf diejenigen zu, die für ihr Handeln und ihre Unterlassungen selber Verantwortung tragen. In Familienunternehmen zum Beispiel ist das eher der Fall. Wenn Verantwortung aber diffundiert, wenn man die Verantwortung für sein Handeln nicht mehr selbst übernimmt, neigen Führungskräfte dazu, den kurzfristigen Nutzen zu maximieren. Ich will jetzt nicht über die CS reden. Aber da könnte man tolle Studien darüber machen, was passiert, wenn Verantwortung nicht von Einzelnen wahrgenommen wird, sondern von der Gesellschaft getragen wird. Deswegen rate ich dazu, die Verantwortungszuschreibung in Unternehmen klar zu regeln ist. Auch für Fehlentscheide.
Metzger, Priester, Kommunikationschef von Roche
Stephan Feldhaus wuchs in der Nähe des Ruhrgebiets auf, wo er im familieneigenen Metzgereibetrieb arbeitete. Danach studierte er katholische Theologie in Münster, Luzern und München und promovierte im Bereich der theologischen Ethik. Später war Feldhaus Leiter der Kommunikation bei Siemens und von 2010 bis 2019 Kommunikationschef des Pharmakonzerns Roche, wo er auch Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung war. Danach gründete er eine Agentur für Kommunikations- und Ethikberatung. Im Oktober 2024 wurde der 62-Jährige zum christkatholischen Priester geweiht. Stephan Feldhaus ist nebenberuflich als Seelsorger in der christkatholischen Kirche im Fricktal (AG) tätig. (sd)
«Das Aushandeln von gemeinsamen Werten ist ein ständiger Kampf»