News aus dem Kanton St. Gallen

Damals, vor 500 Jahren ...

min
29.06.2018
Starke Persönlichkeiten wirbeln Staub auf, stellen vieles auf den Kopf, bewirken Umdenken und Erneuerung; so wie zum Beispiel Vadian, Johannes Kessler und Anna Schlatter-Bernet im alten St. Gallen.

Vadian

Vadian wurde am 29. November 1484 in der Reichsstadt St. Gallen als Joachim von Watt in einer wohlhabenden und einflussreichen Familie geboren. Nach seinem Studium in Wien kehrte er 1509 in seine Heimatstadt zurück. 

 

In der Schweiz sehr angesehen
Vadian bemühte sich erst einmal um die Förderung des Humanismus und wurde dann von der Bewegung der Reformation erfasst, insbesondere durch seinen Zürcher Freund Ulrich Zwingli. 1521 nahm Vadian Einsitz im St. Galler Stadtrat, 1526 wurde er zum Bürgermeister gewählt. In dieser Funktion führte er in den folgenden Jahren die Reformation durch. Er genoss grosses Ansehen in der Schweiz sowie im deutschsprachigen Ausland und wurde für sein diplomatisches Geschick geschätzt. Am 6. April 1551 verstarb der bis heute berühmteste St. Galler.

Ein Nichttheologe als Reformator
Obwohl Vadian kein Theologe war, wäre die sanktgallische Reformation nicht denkbar ohne ihn und seine pragmatische und politisch kluge Art. Vadian wollte die bisher durch ihre Kriegstüchtigkeit bekannt gewordene Schweiz in eine Stätte der Gelehrsamkeit umwandeln. Aus dieser humanistischen Haltung heraus förderte er die Reformation. Dabei übte er vor allem Kritik am Reichtum der katholischen Kirche und ihrem Reliquienkult.

«450 Bände füllt die Handschriftensammlung Vadians in der Kantonsbibliothek St.Gallen.» 

Vadian tauschte sich mit einem Kreis von Freunden aus, vor allem mit Johannes Kessler, seinem theologischen Ratgeber, späteren Biografen und Nachlassverwalter, ebenso mit Heinrich Bullinger (dem Nachfolger Zwinglis in Zürich) oder Johannes Comander (dem Reformator von Chur und Graubünden). Er las Luthers Schriften, aber auch Publikationen der Gegner der Reformation. So wurde er – auch wenn eine klare theologische
Position nicht erkennbar ist – im Laufe der Jahre geistig und politisch zu einer nationalen Grösse, auf die man hörte.

 

Johannes Kessler

Johannes Kessler wurde irgendwann zwischen Oktober 1502 und Anfang 1503 geboren. Seine Mutter war eine arme Näherin, sein Vater einfacher Stadtbürger. Nach Absolvierung der Lateinschule begann Kessler in Basel zu studieren, wo er Erasmus von Rotterdam hörte. Der Humanist Erasmus hatte 1516 ein griechisches Neues Testament publiziert. So konnte die Bibel nun in der Originalsprache gelesen werden. Kessler setzte seine Studien bei Martin Luther in Wittenberg fort.

Sonntägliche Zusammenkünfte
Am 9. November 1523 kam er zurück nach St. Gallen. Er war bereit, eine Pfarrstelle zu übernehmen. Doch die Zeit war noch nicht reif dazu, dass man ihn mit seiner reformierten Lehre angestellt hätte. So arbeitete er während gut zehn Jahren als Sattler. Schon zwei Monate nach seiner Heimkehr wurde er aber von einigen Männern, insbesondere aus der Zunft der Weber, gebeten, er solle doch sein Wissen, das er bei Martin Luther erworben habe, in St.Gallen einbringen. Kessler willigte ein, und so beschlossen sie, sich jeden Sonntag und an allen Feiertagen zu treffen. Die Zusammenkünfte wurden «lectionen», später «Lesinen» genannt. Dabei wurde die Bibel gelesen und Kessler legte die Texte für die Anwesenden aus. Etwas völlig Neuartiges in der damaligen Zeit.

«Kessler war der Überzeugung, dass die Menschen ‹allein durch das heilige Wort Gottes den Weg zur Seligkeit lernen›.» 

Kleine Ursache, grosse Wirkung
Kessler hatte mit seinen «lectionen» grossen Erfolg, obwohl er mit seiner schwachen Stimme kein feuriger Prediger war. Die Gründe dafür lagen in der neuen reformierten Theologie. Kessler war der Überzeugung, dass die Menschen «allein durch das heilige Wort Gottes den Weg zur Seligkeit lernen». 

Ab dem Jahr 1537 bekam Kessler immer mehr offizielle kirchliche Ämter: Schulmeister der Lateinschule, Mitglied des Ehegerichts, Prediger zu St. Laurenzen, Schreiber der neu entstandenen Synode und schliesslich 1571 erster Pfarrer der Stadt. Daneben verfasste er eine Chronik der St. Galler Reformation und eine Biografie seines engsten Vertrauten Vadian. Kessler war der theologische Kopf der Reformation in St. Gallen.

 

Anna Schlatter

Anna Schlatter-Bernet (1773 – 1826) lebte fast 200 Jahre nach Vadian und Kessler. Aufgewachsen in einer politisch bedeutenden, wohlhabenden und streng pietistischen St.Galler Familie, erlebte sie mit 30 Jahren eine tiefe körperliche und geistige Krise, die sie durch ihre Hinwendung zum gnädigen Gott überwand. Anna Schlatter-Bernet gilt spätestens seit diesem Zeitpunkt als wichtigste Frau der «Erweckungsbewegung» im deutschen Sprachgebiet, einer dem Pietismus verwandten Erneuerungsbewegung.

«Ich machte mirs von jeher zur Pflicht, Katholiken wie Protestanten mit Rat, Hülfe und Trost zu dienen, wo ich konnte, ohne zu fragen: Zu welcher Kirche gehörst du? Nur, was bedarfst du? Und kann ich helfen?»
Anna Schlatter-Bernet 

An der damaligen St. Galler Kirche kritisierte sie den dominierenden Rationalismus, war aber gegen jede Form der Spaltung. Sie verband eine tief im Alltag verankerte Frömmigkeit mit einem weltoffenen und konfessionsübergreifenden Denkhorizont. Wichtiges Anliegen der überzeugten Pazifistin war die Allversöhnung, dieLehre, dass alle Menschen gerettet und mit Gott versöhnt werden.

Enormer Einfluss als Frau

Anna Schlatter-Bernet war Laientheologin – Frauen durften damals noch nicht Theologie studieren. Das schmälerte ihren Einfluss allerdings nicht. Sie las theologische Bücher und diskutierte über theologische Positionen. In ihrem Haus «Hinterm Turm» empfing sie namhafte Theologen und Pfarrer unterschiedlicher Richtungen wie Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Jung-Stilling, Johannes Evangelista Gossner, Martin Leberecht de Wette und Friedrich Schleiermacher. Mit vielen stand sie auch in brieflichem Kontakt. Hervorzuheben ist vor allem auch der Katholik Johannes Michael Sailer, der 1822 zum Bischof von Regensburg geweiht wurde. Mit ihm, einem Anhänger der katholischen Erweckungsbewegung in Bayern, verband sie ein inniges Verhältnis. Beide bemühten sich um Aussöhnung zwischen den Konfessionen und traten für ein ökumenisches Christentum ein.

Seltener Nachlass einer Frau

Der Nachlass von Anna Schlatter-Bernet liegt in der Vadianischen Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen. Nachlässe von Frauen aus dieser Zeit sind – im Vergleich zu solchen von Männern – rar. Umso bemerkenswerter ist, dass von ihr eine umfangreiche Hinterlassenschaft erhalten ist. Diese enthält nebst vielen Briefen und Gedichten von ihr verfasste biblische Betrachtungen, theologische Konzepte sowie politische Kommentare. Ihre Biografin Marianne Jehle-Wildberger verortet die «weltoffene St.Galler Christin» zwischen Pietismus, Aufklärung und Romantik und streicht ihre Eigenständigkeit im schriftstellerischen, seelsorgerlichen und sozialen Profil heraus. Anna Schlatter-Bernet war eine beeindruckende Frau, die zu Recht in eine Reihe mit den viel bekannteren männlichen Reformatoren gestellt wird.

 

Texte: Martin Schmidt / Daniel Schmid-Holz / Rezia Krauer / Marcel Wildi | Bilder: Katharina Meier  – Kirchenbote SG, Juli-August 2018

 

Unsere Empfehlungen

«Steh auf, wenn du am Boden bist»

«Steh auf, wenn du am Boden bist»

Sigmar Willi war schon mehrmals am Boden. Als seine Frau früh starb, zog er die vier Kinder alleine gross. Jahre später geriet er in eine Erschöpfungsdepression – die schlimmste Zeit seines Lebens. Im Rückblick analysiert er, was er brauchte, um vom Boden wieder aufstehen zu können.

«Steh auf, wenn du am Boden bist» (1)

Sigmar Willi war schon mehrmals am Boden. Als seine Frau früh starb, zog er die vier Kinder alleine gross. Jahre später geriet er in eine Erschöpfungsdepression – die schlimmste Zeit seines Lebens. Im Rückblick analysiert er, was er brauchte, um vom Boden wieder aufstehen zu können.

«Mir reicht’s, ich gehe beten»

Beten, bei Gott zur Ruhe kommen: Dies eröffnet nicht nur neue Sichtweisen, sondern gibt Hoffnung. Auch Jesus zog sich jeweils zurück, um Kraft zu tanken. Unsere Autorin schöpft sie aus dem Gebet.

Glauben praktisch gelebt

Mit dem Grabser Mesmer Remo Hagger hatte Kirchenbote-Autor Rolf Kühni schon mehrere erfreuliche Begegnungen. Grund genug, ihm auf den Zahn zu fühlen und zu erfahren, was ihn in seiner Arbeit so fröhlich macht.