News aus dem Kanton St. Gallen
Sommerserie Kindergeschichten

Charlie und das Wunder des Lebens

von Swantje Kammerecker
min
13.08.2024
Er ist eigentlich nur eine Katze, die nur noch ein Auge besitzt. Für Lotte jedoch wird er zum Freund, der sie durch ihre Kindheit und Jugend begleitet. In der letzten Kindergeschichte unserer Sommerserie von der Kinderbuchautorin Swantje Kammerecker entdeckt Lotte, wie wertvoll das Leben ist.

Hallo, ich bin Lotte. Und das ist mein Kater Charlie.

Er sieht nicht mehr so gut, denn er hat nur noch ein Auge.

Er hört fast nichts mehr. Und er hinkt ein bisschen.

Charlie ist 18 Jahre alt – uralt für eine Katze. Wäre er ein Mensch, wäre er schon zweimal pensioniert. Er könnte schon Urururopa sein. Er ist ein Wunder. Und das grösste Geschenk meines Lebens!

***

Seit es uns gibt, Charlie und mich, leben wir hier: in dem hübschen Reihenhaus mit den vielen Treppenstufen, dem kleinen Vorgarten voller blühender Sträucher und der Dachterrasse, die wie ein Adlernest über den vier Etagen thront. Von dort oben hat man einen weiten Blick über unser Dorf und die hohen Berge ringsumher.

Früher ist der kleine wilde Kater unermüdlich die Stufen rauf- und runtergehüpft und sogar mal übers Dach spaziert – was natürlich verboten war. Bei mir hat es viel länger gedauert, bis ich all die Treppenstufen hinaufkam: Erst lernte ich kriechen und krabbeln, dann stieg ich Absatz für Absatz langsam an Mamas oder Papas Hand empor. Und wie war ich stolz, als ich es das erste Mal allein bis ganz nach oben schaffte!

Mein Kater und ich, wir sind beste Freunde, seit ich denken kann. Charlie war noch ein winziges Kätzchen, als ich zur Welt kam. Seine Mama Paula war gar nicht begeistert, dass es plötzlich auch noch ein Menschenbaby im Haus gab. Denn meine Eltern hatten ja nicht mehr so viel Zeit, sich um sie und ihren Nachwuchs zu kümmern.

Und dann fing ich auch noch an, ihren Charlie mit vergnügtem Quieken zum Spiel heranzulocken! Paula wollte ihn natürlich bei sich behalten, ebenso wie ihr anderes Katzenkind Klara. Aber Charlie – ihr ahnt es schon – war bald genauso vernarrt in mich wie ich ihn. Sehr zum Ärger von Paula, die bald nach meiner Geburt auszog und sich mit Klara ein neues Daheim suchte.

Als Mama meinen kleinen Bruder Lenny bekam, musste ich zum ersten Mal eine Nacht ohne meine Eltern verbringen. Obwohl Oma zu mir kam, war ich sehr traurig und habe Mama und Papa vermisst. Ich war ganz still und habe nicht geweint. Aber Charlie hat es sofort gemerkt und sich die ganze Zeit an mich gekuschelt. Als ich schlafen sollte, hat er sich neben mein Bett gelegt. Ich habe meine Hände in sein weiches, warmes Fell vergraben und alles war gut.

 

Swantje Kammerecker ist Ärztin. Heute arbeitet sie als Kinderbuchautorin, Journalistin und Redaktorin von Reformiert Glarus. Ihre Kinderbücher sind im Baeschlin-Verlag erschienen. www.textkammer.ch

 

Meine Eltern sagen immer, Charlie sei ein ganz besonderer Kater. Und ich ein ganz besonderes Kind. Ich glaube, sie hatten es nicht immer leicht mit mir. Ich mochte vieles nicht: Erstens, an neue Orte gehen. Zweitens, fremde Menschen in meiner Nähe. Drittens, Lärm; ja vor allem Lärm! Wenn zuhause zu viel los war, verzog ich mich mit Charlie ins Musikzimmer. Dort gab es ein gemütliches Kuschelsofa. Und man konnte man vom Fenster aus in den Garten schauen und Vögel beobachten. Wir hörten dem leisen Klingen des Windspiels draussen im Hibiskus zu, vergassen den Lärm der Welt und waren glücklich.

Meine Eltern hofften, das ich mich im Kindergarten bald an all die Sachen gewöhnen würde, die mir Angst machten. Sie erzählten mir vom Kindergarten und sagten, dass es sicher schön werden würde. Doch ich wollte nichts hören vom Kindergarten. Je näher meine Einschulung kam, desto grösser wurde meine Angst.

Als der Tag schliesslich da war, wollte ich vieles nicht: Erstens, aus dem Bett aufstehen. Zweitens, mich anziehen. Drittens, frühstücken. Ich verkroch mich im Pyjama ins Musikzimmer und rief nach Charlie. Doch der kam einfach nicht. Er hatte die ganze Zeit an der Haustür auf mich gewartet. Denn Charlie wusste wohl besser als ich, dass es Zeit für mich war, in den Kindergarten zu gehen. Als wir endlich zur Tür hinaus wollten, blieb Charlie fest an meiner Seite und rieb seinen Kopf an meinen Knien. Mama versuchte vergeblich, ihn ins Haus zurückbringen.

Aber Charlie setzte sich durch: Er durfte mich den kurzen Weg zum Kindergarten begleiten. Und so lange bleiben, bis Mama sich verabschiedete und ihn mit mitnahm.

Wenn ich vom Kindergarten heimkam, erwartete mich Charlie schon wieder an der Tür und miaute laut vor Freude. Danach kuschelten wir immer erst eine Runde. Das war so schön, dass ich im Kindergarten bereits daran dachte und merkte: Es ist doch auch etwas Gutes, wenn man sich vermisst. Denn dann ist das Wiedersehen doppelt schön. Und auch wenn ich ihn nicht sah, wusste ich: Charlie ist immer für mich da!

****

Später, in der Schule, hatte ich meine grösste Krise. Wenn es laut wurde und die Worte nur so durch den Raum schwirrten, konnte ich nichts mehr verstehen, mir nichts mehr merken, nichts mehr aufschreiben und keine Aufgaben lösen. Ich konnte dann nur noch schreien oder hinausrennen.

Unser Lehrer verstand mich und überlegte, wie er mir helfen könnte. Er stellte einen Sitzsack und einen Wandschirm hinten im Klassenzimmer auf und sagte, ich könne dorthin gehen, wenn es mir zu viel würde. In dieser Ecke gab es auch einen Kopfhörer, über den konnte man Stille hören, Vogelstimmen oder auch Musik. Ich glaube, diese Ecke war meine Rettung. Ich setzte die Kopfhörer auf und kuschelte mich tief in den Sitzsack. Hier ging es mir fast so gut wie mit Charlie. Erst recht, als ich die Musik entdeckte …

Eines Tages wollte der Lehrer mit Mama sprechen. Er zeigte ihr, welche Musik ich am liebsten hörte in meiner Ecke, es war immer dieselbe: Cello. Mama nickte. Ein paar Tage später stand in unserem Musikzimmer ein neues Instrument – ein Kindercello. Ich traute mich kaum, es zu berühren oder gar Töne damit zu machen, weil ich glaubte, seinen Zauber damit zu zerstören.

Doch dann kam eine Frau zu uns, die mir zeigte, wie man darauf spielt. Als sie mit dem Bogen über die tiefklingenden Saiten strich, legte sich Charlie zu ihr, spitzte die Ohren und lauschte. Ja, unser Kater war ein Musikliebhaber! Immer, wenn ich fortan auf dem Cello übte, kam auch Charlie, legte sich unter das Cello und schnurrte wohlig zum Saitenklang. Wir teilten ab da nicht nun nicht nur eine innige Freundschaft, sondern auch unsere Liebe zur Musik!

Meine Eltern freuten sich, nur Lenny nicht. Er versuchte ebenfalls, Charlie mit seinem Flötenspiel anzulocken, doch der Kater flüchtete jeweils schleunigst durch die Katzenklappe. «Das ist ungerecht!», schimpfte Lenny, «ich will auch ein Tier als Freund für mich, einen Hund!»

«Hund und Katze? Ob das gut geht?», wandten Mama und Papa ein. Doch Lenny liess nicht locker, bis eines Tages ein weisser, wuscheliger Hund bei uns einzog, Tanja. Die beiden passten ganz toll zueinander: Endlos tobten sie miteinander durch die Wiesen und kamen abends glücklich und verdreckt heim.

Und Charlie? Der nahm den Familienzuwachs cool: Erst tat er so, als sei der Hund gar nicht da. Aber weil Tanja stets freundlich war und ihm den Vortritt liess, fing auch er sie an, sie zu mögen. So lernte ich von Charlie, offener zu sein und traute mich erstmals, andere Kinder nach Hause einzuladen. Natürlich waren alle von Charlie begeistert. Ja, auch von Tanja. Aber Charlie blieb der King im Haus.

****

Ach, so schön hätte es immer so weitergehen können! Doch eines Tages passierte es: Als Papa die Wäsche im Garten aufhängte, löste sich ein bunter Schal von der Wäscheleine und flog weg. Richtung Strasse. Charlie setzte mit einem Sprung hinterher. Und lief geradewegs dem Pöstler vor die Karre. Ein Unfall! Papa, Charlie und ich fuhren zur Tierärztin, später kam auch Mama mit Lenny nach.

Die Tierärztin sagte: «Es sieht nicht gut aus. Charlie hat ein paar böse Wunden, ein verletztes Auge und ein gebrochenes Bein. Wir können ihn operieren, aber ich glaube nicht, dass es wieder ganz gut wird. Wollen Sie ihn nicht erlösen und ihm eine Spritze geben lassen? Dann kann er friedlich für immer einschlafen?» – «Sicher nicht! Charlie soll leben!» riefen wir empört. Das fand sogar Lenny.

«Gut, wir versuchen es, aber er wird zunächst viel Pflege brauchen.» Für mich war das kein Problem: «Ich kümmere mich um Charlie. Ich habe ja ab morgen Schulferien.»

Charlie brauchte wirklich lange, bis er wieder gesund wurde. Ich trug ihn durchs Haus, fütterte, strählte und streichelte ihn. Wenn er vor Schmerzen maunzte, nahm ich ihn mit ins Musikzimmer und spielte für ihn Cello, bis er sich schnurrend entspannte oder einschlief.

Während das gebrochene Bein wieder zusammenwuchs, entzündete sich aber sein verletztes linkes Auge stark. Wir mussten nochmals die Tierärztin aufsuchen. Und wieder sagte sie: «Das sieht nicht gut aus, Charlies Auge ist nicht mehr zu retten. Das einzige, was ich tun kann, ist, es herauszunehmen. Aber wer weiss, wie gut er mit nur einem Auge zurechtkäme? Wäre es nicht besser, wenn ich ihn mit einer Schlafspritze erlöse?»

«Sicher nicht! Charlie soll leben!», riefen wir wieder. Und ich ergänzte: «Charlie ist ein Kämpfer. Er wird es schon schaffen!» Also wurde Charlie operiert, und ich hatte recht: Er erholte sich schnell und lief fortan mit stolz-verwegenem einäugigen Blick seine Runden im und ums Haus. Ja, er war immer noch der King! Es gab keine Katze und keinen Kater ringsumher, die nicht grossen Respekt vor ihm hatten.

Auch Charlies Liebe zur Musik war geblieben. Er genoss sichtlich die Stunden mit mir und meinem Cello. Vielleicht war er sogar nach seinem Unfall ein ganz besonders aufmerksamer und kritischer Zuhörer geworden? Wenn ich mal zu nachlässig übte, legte er seinen Kopf schräg, sah mich streng mit seinem einen Auge an und macht einen Buckel. Erst wenn er wieder zufrieden schnurrte, wusste ich: Jetzt ist es gut!

Als ich in die Oberstufe kam, durfte ich in den Herbstferien eine Woche lang einen Orchesterkurs für junge Musiktalente besuchen. Ich freute mich riesig darauf, machte mir aber auch Sorgen: Wie sollte das nur gehen, ohne Charlie? Doch als ich dort am ersten Tag von meinem musikalischen Kater erzählte, wollten ihn natürlich alle kennenlernen.

Und Mama kam uns zweimal mit Charlie besuchen: einmal für eine Probe, und tatsächlich zum Abschlusskonzert! Ich durfte ein Solo spielen und war glücklich darüber, wie gut es gelang. Als mich der Dirigent später vor dem ganzen Publikum fragte, warum ich denn gar nicht nervös gewesen sei, traute ich mich tatsächlich ans Mikrofon und sagte: «Mein Kater Charlie hat mir Ruhe und Zuversicht gegeben. Ihm habe so viel zu verdanken. Er hat mir gezeigt, was wahrer Mut ist und was im Leben wichtig ist!»

****

Inzwischen bin ich schon so gross, dass ich mich auf ein Musikstudium vorbereite. Charlie ist ein alter Kater geworden. Er hat nun fast sein Gehör verloren, das war erst sehr traurig. Irgendwann fiel uns auf, dass er sich bei lauten Geräuschen nicht mehr umwandte – nicht einmal bei dem Gebell von Tanja oder wenn Lenny die Haustür krachend ins Schloss fallen liess.

Wieder waren wir bei der Tierärztin, die das Gehör von Charlie testete. Und wieder sagte sie: «Das sieht nicht gut aus. Ihr Kater ist so gut wie taub. Wollen Sie ihn nicht endlich von all seinen Leiden erlösen und einschläfern lassen?»

«Sicher nicht! Charlie soll leben», war natürlich unsere Antwort. Denn Charlie liebt das Leben nach wie vor. Und auch die Musik! Wenn ich Cello übe, was jetzt sehr oft der Fall ist, legt er sich noch immer dazu und schnurrt leise. Die Haarspitzen seines prächtigen Fells vibrieren sachte zu den Klängen, sogar im Schlaf. Und wenn ich mal nicht bei der Sache bin, hebt er den Kopf und beäugt mich kritisch. Charlie ist wirklich ein ganz besonderer Kater, er ist ein wahres Wunder.

Ja, Charlie feiert heute seinen 18. Geburtstag und auch ich werde bald volljährig sein. Wenn ich die Aufnahmeprüfung fürs Musikstudium bestehe, werde ich von zu Hause ausziehen müssen. Ich werde Charlie oft vermissen. Aber wenn ich in die Zukunft schaue, weiss ich: Charlie wird bei jedem meiner Konzerte dabei sein. Sein Schnurren, unter meinem Cello, zwischen meinen Beinen, begleitet mich stets. Und das, was ich von ihm gelernt habe: «Was auch immer geschieht, bleib mutig. Das Leben kommt zu dir, nimm es an – als Geschenk.»

 

Sommerserie Kindergeschichten

«Mir ist langweilig!» «Wann sind wir endlich da?» «Ich will aber zocken!» «Ich habe mein Buch schon fertig.» Wer kennt es nicht: die ersehnten Sommerferien sind da und damit jede Menge Zeit. Lust auf eine neue Geschichte? In der Sommerserie «Kindergeschichten» geht es um Kinder und Tiere, die füreinander da sind, voneinander lernen und das grosse Glück suchen.

 

Geschichten für Kinder und Erwachsene zum Lesen, Vorlesen und Erzählen. Ob im Zug, am Strand oder zu Hause auf dem Sofa, wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer!

 

Erscheinungstermine

Dienstag, 16. Juli: Die kleine Milla und das grosse Glück, von Anna Schindler
Dienstag, 23. Juli: Mara, von Franz Osswald
Dienstag, 30. Juli: Tobias erlebt ein Abenteuer, von Noemi Harnickell
Dienstag, 6. August: Der Schuhschnabel, von Tilmann Zuber
Dienstag, 13. August: Charlie und das Wunder des Lebens, von Swantje Kammerecker

Unsere Empfehlungen

Die kleine Milla und das grosse Glück

Die kleine Milla und das grosse Glück

Die kleine Eule Milla macht sich auf die Suche nach dem grössten Glück. In der ersten Kindergeschichte unserer Sommerserie erzählt die Kinderbuchautorin Anna Schindler, ob die Tiere des Waldes Milla bei ihrer Suche helfen können.
Mara

Mara

Die Hündin Mara und der 8-jährige Linus wurden Freunde. Doch danach sah es im ersten Moment nicht aus. In der zweiten Kindergeschichte unserer Sommerserie erzählt der Journalist und Krimiautor Franz Osswald, wie man es wieder hinbekommen kann, wenn etwas schiefgelaufen ist.
Tobias erlebt ein Abenteuer

Tobias erlebt ein Abenteuer

Ein riesiger Fisch, ein treuer Hund und ein geheimes Rezept: Auch die Bibel kennt Geschichten, die an Märchen erinnern. Nur muss man sie so erzählen. In der dritten Kindergeschichte unserer Sommerserie erzählt Journalistin und Autorin Noemi Harnickell von Ninive.
Der Schuhschnabel

Der Schuhschnabel

Dass Kinder Hunde, Katzen und Meerschweinchen lieben, ist verständlich. Doch einen hässlichen Vogel, der sich kaum rührt? In der vierten Kindergeschichte unserer Sommerserie erzählt Kirchenbote-Chefredaktor Tilmann Zuber, warum für Frederic ausgerechnet dieser Vogel wichtig wurde.