Blosses Mitschwimmen in der Kultur des «christlichen Abendlandes» reicht nicht mehr aus
Mitgliederschwund bei den Landeskirchen! Regelmässig informieren uns die Medien über die Abnahme der Kirchenmitglieder, illustriert mit Bildern von (fast) leeren Kirchenbänken. Auch die neuste Kirchenmitgliedschaftsstudie in Deutschland zeigt: Zu den erfolgreichen Unternehmen scheint das Christentum unserer Tage in Europa nicht zu gehören. Schliesslich sind nur Unternehmen erfolgreich, die wachsen. Das versteht sich heute von selbst. Ob sie auch etwas Sinnvolles leisten oder etwas Nützliches produzieren, ist dabei für die Kategorie «Erfolg» kein Kriterium.
Wenn man die christlichen Kirchen Europas durch eine solche marktwirtschaftliche Brille betrachtet, stehen sie zweifellos auf der Verliererseite. Die Frage ist nur, ob diese Brille auch passt. Jedenfalls verändert sich der Blick, wenn man die Evangelisch-reformierten Landeskirchen in den langen Geschichtsprozess einordnet, in dem sie stehen. Und erst recht, wenn man ernst nimmt, worin ihr einziger Auftrag besteht: eine evangelisch-reformierte christliche Kirche zu sein.
Jedes Volk hatte seinen Gott
Dass es überhaupt Landeskirchen gibt, hat mit einer jahrtausendealten Tradition zu tun. Solche Traditionen verändern sich, wenn oft auch sehr langsam. Schon vor unserer Zeitrechnung hatte jedes Volk seinen Gott (oder seine Götter). Der Blick ins Alte Testament macht dies deutlich. Zu einem Volk zu gehören, hiess immer auch, zur Religion dieses Volkes zu gehören. Wer einen anderen Gott anrief, hatte keinen Platz in der Gesellschaft. Denn nur eine gemeinsame Religion konnte die Grundlage für ein Zusammenleben als Volk sein, so die Überzeugung, welche auch die Schweiz bis ins 19. Jahrhundert hinein prägte, und dies noch heute in weiten Teilen der Welt tut – man denke etwa an die Russisch-orthodoxe Kirche.
Grösste Tyrannen bezeichneten sich als «Allerchristlichste Herrscher»
Und so wurden die Christen im Römischen Reich zunächst verfolgt. Das änderte sich bekanntlich mit der «Konstantinischen Wende». Das «Dreikaiseredikt» aus dem Jahr 380 machte den christlichen Glauben als Staatsreligion für das gesamte Abendland obligatorisch und erklärte alle Einwohner über Nacht zu Christen. Eine Kritik am christlichen Gott war nun ein Offizialdelikt. Das Christentum wurde zur Volkskultur, und die Einflüsse gingen in beide Richtungen – unsere Weihnachtszeit illustriert dies bis heute eindrücklich. Nächstenliebe und Ketzerverfolgung, Taten der Liebe und des Schreckens, alles war «christlich» – es waren ja alle «Christen» und keine «Heiden». Auch die grössten Tyrannen behaupteten sich als «allerchristlichste Herrscher». In einer «christlichen» Kultur spannt jeder die christliche Religion vor den Karren seiner Interessen.
Die Reformation war eine Besinnung auf den Kern der christlichen Botschaft: Christentum ist keine Gegend, in der man aufwächst. Christlicher Glaube ist Glaube an Christus, in dem Gott uns Menschen als Mensch zu unserem Heil nahekommt. Deshalb der Name. Er ist eine freie und persönliche Entscheidung von Menschen, die von der christlichen Botschaft, dem Evangelium, berührt und erfasst wurden, die daraufhin freudig glauben wollen und die dem eigenen Leben eine neue Richtung geben, in der Regel quer zum kulturellen, auch zum vermeintlich christlich-kulturellen Mainstream.
Reformiertes Zwangschristentum
«Das Reich Gottes ist nahe, kehrt um und glaubt an das Evangelium», so fassen die Evangelien die Verkündigung Jesu Christi, die evangelische Botschaft, zusammen. Ohne etwas Mut und Rückgrat ist christlicher Glaube nicht zu haben!
Allerdings standen auch die Menschen im 16. Jahrhundert noch im langen Schatten des Staatschristentums des Römischen Reiches. Die Pfarrer verkündeten die gute Nachricht und luden zu einem freien Glauben ein. Die christliche Obrigkeit sorgte dafür, dass der Besuch des Gottesdienstes obligatorisch blieb und sich die Bevölkerung «christlich» benahm. Schliesslich war nun der reformierte Glaube Staatsreligion! Erst nach und nach wurde dies gelockert, und dass das Ende des reformierten Zwangschristentums keine Zunahme, sondern eine Abnahme des Gottesdienstbesuchs zur Folge hatte, versteht sich von selbst.
Peter Opitz
Der Theologe, Philosoph und Pfarrer Peter Opitz (66) war von 2009 bis 2022 Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich sowie Leiter des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte. Er ist verheiratet und lebt in Zürich. (ref.ch/sd)
Die Freiheit, auszutreten
Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstanden in der Schweiz Verfassungen, die nicht mehr eine gemeinsame Religion zur Grundlage hatten. Aus einer «theologischen» Glaubensfreiheit wurde – endlich! – auch eine politische und gesellschaftliche. Denn die Freiheit, in die Kirche zu gehen, gibt es nur, wenn es auch die Freiheit gibt, nicht in die Kirche zu gehen. Die Wiederentdeckung des Glaubens als freie menschliche Antwort auf die Gute Nachricht in der Reformation und der Kampf für Glaubensfreiheit von reformierten christlichen Minderheiten gegen ein abendländisch-katholisches Zwangschristentum öffneten dazu die Tür. Wer möchte schon zu den vollen Kirchen der völkischen oder staatlichen Einheitsreligion zurück? Und so wurden aus Staatskirchen rechtlich verfasste Landeskirchen, in die man zwar nach wie vor hineingeboren wurde, bei denen man aber nun auch die Freiheit erhielt, auszutreten.
Von dieser Freiheit machen in den letzten Jahren immer mehr Menschen Gebrauch. Über die allgemeinen gesellschaftlichen Gründe wird viel geschrieben: Das Verblassen der Bedeutung von Traditionen überhaupt, die Flut von Angeboten aller Art, die aus der Kirche einen Anbieter unter anderen macht, der Individualismus der Lebensentwürfe bis hin zur Ich-AG, und vielleicht auch eine blasse kollektive Erinnerung an ein autoritäres Christentum der Vergangenheit führen dazu, dass es eine bewusste, verantwortliche Entscheidung braucht, um Mitglied einer Kirche zu werden oder zu bleiben. Blosses Mitschwimmen in der Kultur des «christlichen Abendlandes» reicht nicht mehr aus, weil es eine solche einheitliche «christliche» Kultur immer weniger gibt.
Mitgliederschwund hat Vorteile
Der Mitgliederschwund in den Landeskirchen ist zweifellos ein kultureller Prozess, der nicht zu ändern ist und nicht nur Nachteile hat. Denn wenn nicht mehr sowieso alles «christlich» ist, ist eine Besinnung darüber nötig, worin denn eigentlich die Aufgabe und Existenzberechtigung einer Evangelisch-reformierten Kirche besteht. Kann dies etwas anderes sein, als im Auf und Ab der Geschichte, im Wechsel der kulturellen Strömungen und gesellschaftlichen Trends immer wieder neu auf die evangelische Botschaft zu hören (und möglichst nur auf sie) und sie nach bestem Wissen und Vermögen mit anderen Menschen zu teilen – weil es eine frohe Botschaft ist? Das Seelenheil der Nachbarin und die Rettung der «christlichen Schweiz» liegt nicht in ihrer Verantwortung. Und das ist gut so.
Blosses Mitschwimmen in der Kultur des «christlichen Abendlandes» reicht nicht mehr aus