«Bei Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle»
Friederike Rass und Matthias Lehmann, was bedeutet für Sie randständig?
Matthias Lehmann: Am Rande der Gesellschaft zu stehen. Ich habe lange auf der Gasse gelebt und erlebt, wie die Gesellschaft Angst und Ekel vor mir hatte. Meine Haare waren verfilzt, ich war verdreckt, voller Blut und eitriger Wunden. Seit ich clean bin, sage ich, dass ich ein anständiger Randständiger sei. Für mich ist wichtig: Randständige sind genauso wertvolle Menschen wie alle anderen.
Friederike Rass: Stimmt. Das Wort randständig ist missverständlich. Denn Randständige sind Menschen, die am meisten Schutz bräuchten und deshalb in die Mitte der Gesellschaft gehören. Das Wort vermittelt das Gefühl: Die stehen am Rand, die gehören da hin. Man übersieht leicht: Auch die Gesellschaft hat ihren Anteil daran, dass Menschen keinen Platz mehr finden.
Hat sich die Situation der Randständigen in den letzten zwanzig Jahren verändert?
Matthias Lehmann: Ja, es gibt heute viel mehr Angebote, vor allem für Junkies und Migranten. Man bekommt dort etwas zu essen. Als ich noch auf der Strasse lebte, musste ich die Sandwiches aus den Kübeln fischen, ich war hungrig und völlig ausgemergelt.
Friederike Rass: In den letzten Jahren sind viele Initiativen entstanden, die die Grundbedürfnisse abdecken. Gleichzeitig hat die psychische Belastung der Menschen zugenommen, sodass sie die Angebote nicht aufsuchen können. Wie in den Anfängen des Sozialwerks von Pfarrer Sieber müssen wir verstärkt hinausgehen und die Betroffenen aufsuchen.
Warum?
Friederike Rass: Die Inflation, die Coronapandemie, der Krieg in der Ukraine, die gesellschaftliche Entwicklung: All das verunsichert diejenigen, die ohnehin schon um ihre Existenz kämpfen.
Viele fragen sich bei Randständigen, wie es so weit kommen konnte. Warum sind Sie, Matthias Lehmann, auf der Strasse gelandet?
Matthias Lehmann: Als ich 11 Jahre alt war, liessen sich meine Eltern scheiden, ich habe das nicht verkraftet. Dann traf ich die richtigen oder falschen Kollegen, ich fing an zu trinken, kiffte, nahm Heroin und Kokain. Nach der Lehre landete ich auf dem Letten, später auf dem Platzspitz. Ich machte unzählige Entzüge und Therapien, endete im Gefängnis und im Sune-Egge. Vor bald 16 Jahren spülte ich meinen letzten Stoff das WC runter.
Wie kam es dazu?
Matthias Lehmann: Ich war total kaputt, jahrelang vollgepumpt mit Drogen, Alkohol und Tabletten. Mir war alles egal. Ich dachte nur: Einmal Junkie, immer Junkie! Meine Mutter hat mich besucht und für mich gebetet. Danach kaufte ich mir Stoff. Als ich in den Sune-Egge zurückkam, ging ich mit dem Stoff ins Büro, ich wusste, das bedeutet Ausschluss. Aber der Zivi drückte mir den Stoff in die Hand und sagte, ich solle ihn in das WC schütten. Ich dachte noch: Der gute Stoff, er hat so viel gekostet ... Nachdem ich die Spülung betätigt hatte, rührte ich nie wieder Alkohol oder Drogen an.
Friederike Rass, Ihr Leben ist ganz anders verlaufen. Sie haben eine grossartige akademische Karriere gemacht und in der Theologie promoviert. Warum haben Sie die Universität verlassen und kümmern sich um Randständige?
Friederike Rass: Dass ich hier arbeite, ist die logische und sinnvolle Konsequenz meines Studiums. Es ist kein Gegensatz – hier der akademische Elfenbeinturm, dort die Suppenküche. Als Leiterin des Sozialwerks von Pfarrer Sieber kann ich hier das umsetzen, was ich an der Uni gelernt habe.
Verstehen Sie, warum Menschen auf der Strasse leben und sagen, sie könnten nicht mehr?
Friederike Rass: Sicher, das sind oft schlimme Geschichten, die diese Menschen erlebt haben. Es kann jeden treffen. Manche von uns kommen mit einem so schweren Rucksack auf die Welt, dass er sie erdrückt. Es kostet sie unglaublich viel Kraft zu überleben. Allein morgens aufzustehen und sich durchzuschlagen, ist eine wahnsinnige Leistung.
Viele scheuen den Kontakt zu den Obdachlosen und Junkies.
Matthias Lehmann: Das kann ich verstehen. Sie haben die Zeit am Platzspitz und am Letten in Erinnerung, als es Überfälle gab. Auch ich habe bewaffnete Überfälle gemacht, war voller Dreck und Blut und habe die Leute angebettelt. Da gehen viele natürlich auf Distanz. Wenn dich heute jemand um einen Stutz anbettelt, brauchst du keine Angst zu haben und kannst auch Nein sagen.
Friederike Rass: Das Wichtigste ist nicht, ob man jemandem etwas gibt oder nicht, sondern ob man das Gegenüber als Menschen wahrnimmt, mit ihm spricht und nicht so tut, als wäre jemand Luft. Ich möchte Mut machen, sich auf ein Experiment einzulassen: Geben Sie doch etwas und schauen Sie am Ende des Monats, wie viel es war. Meistens ist es nicht viel, und man ist vielleicht an der einen oder anderen Stelle ins Gespräch gekommen und hat neue Einsichten gewonnen.
Leidet man, wenn man den ganzen Tag auf der Strasse bettelt und die Leute einen wie Luft behandeln?
Matthias Lehmann: Ich habe viel auf der Bahnhofstrasse in Zürich gebettelt. Ja, es tut schon weh, wenn die Leute einen abwertend behandeln. An schlechten Tagen, wenn man auf Entzug ist, fühlt man sich sowieso wie der letzte Dreck.
Und dann tut es gut, wenn sich Sozialwerke um einen kümmern?
Matthias Lehmann: Ja, da wird man betreut und aufgepäppelt. Als ich vor 25 Jahren in einem kalten Winter wegen meiner vier Ratten nicht in eine Notschlafstelle durfte, hat mir Pfarrer Ernst Sieber einen alten Militärschlafsack gebracht.
Sie hatten vier Ratten?
Matthias Lehmann: Natürlich, sie lebten unter meinem Pullover und tranken von meinen Lippen. Ich hätte sie nie hergegeben, lieber wäre ich draussen erfroren.
Heute steigen die Sozialkosten. Auf der anderen Seite herrscht ein grosser Spardruck.
Friederike Rass: Die Stadt Zürich nimmt seit der Schliessung des Platzspitz ihre soziale Verantwortung ernst und bietet entsprechende Angebote und Notschlafstellen an. Aber nur für Menschen, die in Zürich gemeldet sind. Für alle anderen wird es eng, sie dürfen die Angebote der Stadt nicht nutzen. So landen sie bei uns. Wir merken, dass die Zahl der Schutzsuchenden zunimmt, unsere Auffangangebote sind oft bis an ihre Grenzen ausgelastet. Manchmal fragen wir uns schon, wie das noch werden soll. Aber wir versuchen es jeden Tag aufs Neue und suchen nach innovativen Wegen, auch im Umgang mit sogenannten Systemsprengern.
Was sind Systemsprenger?
Friederike Rass: Das sind häufig Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, oft Schizophrenie oder Paranoia, und die häufig keine für sie wichtigen Medikamente nehmen. Man kommt kaum an sie heran. Sie glauben zum Beispiel, dass man als Person ausgetauscht wurde. Manchmal kommt es dann zu schwierigen Situationen, in denen sie sich und andere gefährden.
Die Schweiz verfügt über einen ausgebauten Sozialstaat. Wozu braucht es noch private Institutionen?
Matthias Lehmann: Dank Ernst Sieber und den Sieberwerken leben heute noch viele. Auch ich, ohne Ernst Sieber wäre ich gestorben.
Friederike Rass: Wir fangen Menschen dort auf, wo alle Netze des Sozialstaates versagt haben. Wir lassen niemanden allein.
Kann dies nicht auch der Sozialstaat leisten?
Matthias Lehmann: Vom Sozialstaat bekommt man eine IV-Rente und finanzielle Unterstützung, vielleicht auch mal eine Beratung, aber keine Begleitung. Wenn man zum Beispiel eine Wohnung sucht, muss man das selber tun. Das ist gerade für Randständige ein Ding der Unmöglichkeit, vor allem in Zürich.
Friederike Rass: Ernst Sieber hat immer gesagt, der Staat könne nicht lieben. Damit hat er es auf den Punkt gebracht. Der Staat bemüht sich, aber im System gehen manche unter oder verloren. Wenn die Betroffenen schlechte Erfahrungen mit dem Sozialamt gemacht haben, gehen sie nicht mehr hin. Manches, was verlangt wird, ist zu anspruchsvoll. Oft verstehen die Leute die Formulare nicht. Unsere Sozialberatung, die sich mehr Zeit nehmen kann, versucht, Ordnung in die ganzen Unterlagen zu bringen. Meist tauchen dann Probleme auf, die erst einmal gelöst werden müssen. Zum Beispiel, dass eine Mutter Steuerschulden hat und obdachlos zu werden droht, weil sie ihren Sohn noch finanziell unterstützt.
Was wünschen Sie sich vom Sozialstaat?
Matthias Lehmann: Die Ämter sollten sich mehr Zeit für ihre Klienten nehmen. Die fehlt oft. Neulich rief die Spitex bei einem älteren Patienten an und sagte, er solle sich schon mal ausziehen und sich in die Badewanne stellen. Sie käme dann und würde ihn duschen. Wenn man nur zehn Minuten pro Patient hat, fehlt die Zeit für das Gespräch.
Was bedeutet es für Sie, für das Sozialwerk von Pfarrer Sieber zu arbeiten?
Friederike Rass: Ich bin sehr dankbar, in der Tradition von Ernst Sieber wirken zu können. Der Pfarrer sagte: «Wir schaffen nicht für die Menschen, sondern mit den Menschen.» Durch diesen einzigartigen Ansatz kann jede und jeder seine Gaben einbringen. Wenn eine Person völlig durchgefroren durch die Tür kommt und wütend über die Welt flucht, ist sie genauso willkommen wie jede andere.
Matthias Lehmann: Andererseits braucht man ein dickes Fell. Wenn man die Medikamente nicht gleich ausgibt oder wenn die Leute nicht das bekommen, was sie wollen, wird man schnell angepöbelt. Das muss man aushalten und darf es nicht persönlich nehmen. In einem normalen Krankenhaus könnten sich die Patienten so etwas nicht leisten.
Friederike Rass: Wenn es den Sune-Egge nicht gäbe, würden die Leute nicht in ein normales Spital gehen. Sie würden früher sterben, so hart das klingt. Wenn man Randständige und Obdachlose aus dem Spital entlässt, vergisst man oft, dass diese Menschen kein Zuhause mit einer Couch haben, auf der sie sich ausruhen können.
Aber Hand aufs Herz: Geht Ihnen der raue Umgangston nicht manchmal auf die Nerven?
Friederike Rass: Eigentlich nicht, nein. Das passiert im Verhältnis nicht oft. Eine Geschichte fällt mir ein: Beim letzten Weihnachtsessen für Obdachlose, zu dem traditionell das Hotel Marriott eingeladen hatte, half ich einer Frau, die nicht gut gehen konnte, zum Buffet. Sie fragte mich: «Wer bist du?» Als ich mich als Friederike vorstellte, bruddelte sie mich an, das sei ja wohl ein «Scheissname». Ich musste so lachen: Sie meinte es nicht böse, sie war einfach wütend auf die Welt, und ich kann das so gut verstehen. Das Leben auf der Gasse ist heftig. Ihre Hüfte tut weh, dann ist sie noch auf Hilfe angewiesen, was gegen ihren Stolz geht. Und trotz dieser Hilflosigkeit bleibt sie sich ganz treu, davor habe ich Respekt. Die Welt ist einfach ungerecht. Unter anderen Umständen wären viele Menschen nicht da, wo sie jetzt sind. Irgendwo muss doch diese ganze Wut auch ihren Ort finden. Aber reden wir doch lieber von all den berührenden Begegnungen, in denen ich den Humor der Menschen erlebe und ihre Dankbarkeit und Freude mit ihnen teilen darf. Das sind sehr viele.
Wie sehen diese aus?
Friederike Rass: Ich erlebe es jeden Tag, dass sich jemand zu mir setzt und mir seine Geschichte erzählt oder mich zum Lachen bringen will. Dieses Grundvertrauen ehrt mich, und ich bin dankbar, einen Teil zu dieser Gemeinschaft beitragen zu können.
Bald ist Weihnachten. Was bedeutet dieses Fest für Sie?
Matthias Lehmann: Ich freue mich auf Weihnachten. Früher war das anders, es war eine traurige Zeit. In diesen Tagen merkte ich, wie einsam ich war. Manchmal zündete ich eine Kerze, die in einem Manderinli steckte, auf meinem Fixertischli an. Deshalb müssen wir an Weihnachten auf der Gasse präsent sein, wir dürfen die Obdachlosen und Junkies nicht alleine lassen.
Friederike Rass: Heute sagt man, Weihnachten sei das Fest der Liebe. Das klingt fast schon wie ein platter Slogan aus der Werbung. Wenn wir diese Aussage aber ernst nehmen, steht da eine unheimliche Macht dahinter. Wir haben es jeden Tag in der Hand, wie wir einander begegnen. Und zwar nicht nur den Menschen, die uns ohnehin nahestehen, sondern all unseren Nächsten, sei es der Brezelverkäufer, der seit zehn Stunden im Laden steht, oder jemand, der im Tram um Kleingeld fragt. Das Fest der Liebe fordert uns auf, liebevoller miteinander umzugehen, und das nicht nur zur Weihnachtszeit.
Hat die Erzählung von der Geburt Jesu eine Bedeutung für Menschen am Rande der Gesellschaft?
Matthias Lehmann: Ja, Jesus ist für alle Menschen gekommen, egal ob Junkies, Alkoholiker, Obdachlose oder Wohlhabende.
Friederike Rass: Jesus wurde in einem Stall geboren, als verletzliches Geschöpf, als Baby, unter schwierigen Umständen. Das ist ein starkes Bild, dass Menschen, die am verletzlichsten sind, in die Mitte der Gesellschaft gehören. Die Weihnachtsgeschichte steht für unverbrüchliche Hoffnung und bestärkt uns darin, Gutes zu tun, selbst wenn wir immer wieder scheitern. Wir wollen in Frieden miteinander leben und uns als Gemeinschaft gegenseitig tragen, da können alle nur gewinnen. Und das fängt einfach im ganz Kleinen an.
Matthias Lehmann: Und bei Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Ich war selbst einer, ohne Gott wäre ich nicht mehr da.
Friederike Rass: Von aussen werden viele Menschen, die bei uns Hilfe suchen, als hoffnungslos abgestempelt. Aber wir erleben jeden Tag, dass das nicht stimmt. Manchmal braucht es gar nicht viel, zum Beispiel, dass die Behörden und wir alle ein bisschen grösser denken. Und schon wird es besser. Wir alle können viel dazu beitragen, um andere zu unterstützen und ein neues Leben zu ermöglichen. Es kommt vor allem darauf an, es überhaupt zu versuchen.
Das Sozialwerk Pfarrer Sieber
Der evangelisch-reformierte Pfarrer und Nationalrat Ernst Sieber wurde durch seinen kompromisslosen Einsatz für Obdachlose, Drogensüchtige und Aidskranke schweizweit als «Obdachlosenpfarrer» bekannt. 1988 gründete Sieber in Zürich das Sozialwerk Pfarrer Sieber, die sich auf der Grundlage des Evangeliums für Menschen in Not einsetzen. Auch nach dem Tod des Gründers im Jahr 2018 betreibt das Sozialwerk Pfarrer Sieber Institutionen und Projekte, die Menschen am Rande der Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. 190 Mitarbeitende und 350 Freiwillige betreuen in Zürich und Umgebung mehrere Einrichtungen im Gesundheits- und Wohnbereich sowie Notschlafstellen wie den Pfuusbus und das Iglu.
Ernst Sieber, Obdachlosenpfarrer: «Die benachteiligten Menschen sind die ersten Adressaten für das Reich Gottes.»
«Bei Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle»