Armenische Tragödie immer noch im Kopf
Im Palast des Wali, des Präfekten von Aleppo, im Jahr 1915: Der osmanische Staatsdiener braust auf, schreit seinen armenischen Leibarzt an: «Ungläubige wie dich wollen wir nicht mehr auf dem heiligen Boden unseres Osmanischen Reiches. Morgen werden dich meine Soldaten holen!» Der inszenierte Wutausbruch des Präfekten ist eine versteckte Lebensrettung. Denn zuvor ereilte den Wali der Regierungsbefehl, die christlichen Armenier zum Hungermarsch in die Wüste zu deportieren.
Der Retter
Diese Geschichte hat sich tief in das Familiengedächtnis der Familie Ziegler aus Uitikon eingegraben. Felix Ziegler hat über seine armenische Frau Ani davon erfahren, die Enkelin des armenischen Leibarztes.
Felix Ziegler fabuliert wie ein orientalischer Erzähler. Er erzählt gerne Geschichten mit Happy End. Aber Hunderttausende armenische Geschichten fanden keinen glücklichen Ausgang. Das weiss kaum ein Schweizer besser als er. 1968 brach Ziegler in den Libanon auf. Er leitete dort bei Beirut die Behindertenschulen und die Heime für armenische Blinde und Alte, die ursprünglich vom Schweizer Missionar und Laienarzt Jakob Künzler und seiner Frau Elisabeth begründet wurden. Dort begegnete er den mittlerweile alt gewordenen Armenierwaisen, in denen sich immer wieder der Albtraum des Genozids von 1915 und 1916 mit seinen grausamen Massakern und Todesmärschen hochdrängte.
Mitten im Orkan des Völkermordes 1915 / 16 wurde Jakob Künzler zu einem der wenigen unparteiischen Zeitzeugen.
Die ersten sieben Jahre im Zedernstaat verliefen für den gelernten Primarlehrer ruhig. Dann brach der Bürgerkrieg zwischen muslimischen, palästinensischen und linken Kräften und christlichen Gruppen aus. Die neutral gebliebenen Armenier standen zwischen allen Fronten.
Ziegler vermittelte, half dem IKRK bei der Evakuierung verwundeter Palästinenser oder belagerter Christen bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Die Blinden und Betagten evakuierte er in die Libanonberge, die Taubenschule ins damals sichere Syrien.
Wie Künzler in den Zeiten des Genozids hielt auch Felix Ziegler mitten im Bürgerkrieg die Stellung. Sicher half ihm dabei etwas, das er
mit Künzler teilte: der Glaube. Für seine christlich-pazifistischen Prinzipien war er 1968 in der Schweiz als Dienstverweigerer ins Gefängnis gekommen und hatte sich damit die Möglichkeit verbaut, seine Karriere als Lehrer fortzusetzen. Das hatte den Ausschlag gegeben, in den Libanon zu gehen.
Der Armenienvater
Auch Künzler vermittelte, bugsierte 8000 Waisen durch die Türkei in den sicheren Hafen von Beirut. Aber er sah auch viele während des Völkermords in den Tod gehen. Künzler ist oft verzweifelten Frauen begegnet. «Als ich einmal mit Brot erschien, riefen mir die Frauen zu: ‹Brot bringst du uns? Uns, den Kindern des Todes? Nein, bringe nicht Brot, aber Gift, viel Gift.›», schrieb er einmal über Frauen, die kurz davor standen, den todbringenden Hungermarsch anzutreten.
Mitten im Orkan des Völkermords wurde Jakob Künzler zu einem der wenigen unparteiischen Zeitzeugen. Mit «Plan und Wille», sollte er später schreiben, vollzog sich die behördlich organisierte Vernichtungspolitik. Die in der Türkei beliebte These, ein undiszipliniertes Marodieren aufgebrachter Menschen habe das «Massaker» ausgelöst, wird durch seine Aufzeichnung widerlegt. Noch den letzten zerschmetterten Verletzten haben Uniformierte aus dem Bett des Schweizer Spitals von Urfa gezerrt, um ihn zu töten. Die beschönigenden Propagandalügen von Bevölkerungsaustausch oder der immer wieder angeführten armenischen Kollaboration mit den Russen dementierte Künzler.
Dank seiner Berichte wird die abstrakte Zahl von 1,5 Millionen Toten konkret. 1,5 Millionen Tote für die Homogenisierung der bis dahin multiethnischen und multireligiösen Türkei – das war das Völkermord-Programm der jungtürkischen Regierung.
Heute will Felix Ziegler den Völkermord im Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung verankern. Mittlerweile pensioniert, hilft das Vorstandsmitglied der Gesellschaft Schweiz-Armenien mit, den Gedenkanlass im Berner Münster am 24. April zu organisieren.
Das Datum steht für die Ermordung von über 200 Intellektuellen in Istanbul und für den Anfang des Mordens. Ziegler, der moderne «Armenierfreund», engagiert sich auch bei der armenischen Kirche, die der verstreuten armenischen Diaspora von rund 6000 Armenischstämmigen in der Deutschschweiz eine spirituelle Heimat bieten will.
Der Wanderprediger
Ihr Pfarrer, Shnork Tchekidjian, ist ein Wanderprediger, der in katholischen und reformierten Gotteshäusern zwischen Kreuzlingen, Dübendorf und Baden Gastrecht erhält, um mit seinen Gemeindegliedern Messe zu feiern. «Eine Kirche ohne Kirche, aber mit Gott», sagt der Pfarrer in seinem kleinen Büro in Opfikon.
Hier in dem kleinen Raum drängt sich buchstäblich ganz Armenien zu einer Welt im Kleinen zusammen. In den Regalen reihen sich berühmte Steinkirchen en miniature auf, finden sich Fotos von armenischen Grabstelen, vom heiligen Berg der Armenier, dem Ararat, oder auch ein Fähnchen Armeniens. In die ehemalige Sowjetrepublik hat es viele der Überlebenden nach dem Genozid verschlagen.
Auch die zahlreichen armenischen Bücher künden davon, dass hier der spirituelle Botschafter der Deutschschweiz seinen bescheidenen Sitz hat. Die beengten Verhältnisse offenbaren die finanziell prekäre Lage, wie auch den Willen, Kultur und Religion der Armenier ins 21. Jahrhundert zu retten.
Eines ist Tchekidjian besonders wichtig: Auch in der vierten Generation soll die Sprache erhalten werden. Trotz seiner weit verzettelten seelsorgerischen Aufgaben will er noch den Sprachunterricht für die Jungen initiieren. «Die Sprache zu erhalten, das ist sehr wichtig. Die Sprache verkörpert den Charakter unseres Volkes, unserer Kultur», sagt er. Aber eine Sprache müsse gesprochen werden. Einmal die Woche Armenisch-Unterricht, das sei nicht genug.
Die Nachgeborene
Die 27-jährige Eugénie Renold spricht Armenisch. Die junge Frau hat sich schon lange mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt, spürt ihrer Herkunft nach. Die Studentin des Fachs Populäre Kulturen widmete auch ihre Bachelorarbeit der Erinnerungskultur. Dafür studierte sie nicht nur eine ansehnliche Liste theoretischer Literatur, sondern baute eines Tages vor der Grossmutter das Aufnahmegerät auf. Lange hatte ihre Grossmutter von sich aus immer einen Bogen um das Thema gemacht. «Sie wollte uns mit ihren tragischen Erinnerungen nicht belasten.»
Nun aber entwickelte die Grossmutter bei der Befragung ein erstaunliches Gedächtnis für das, was ihre Mutter über die blutige Zeit von 1915 und 1916 erzählt hatte. Detailreich schilderte sie, wie ihre verwaiste Mutter mit deren Grossmutter 1916 unter glücklichen Umständen auf ein Boot gelotst wurde und bei bewegter See auf dem Schwarzen Meer nach Istanbul gelangte. Hier lebte die dezimierte Familie in einem Zelt. Dank einem Schneider aus ihrem Heimatdorf, der mit dem Übertritt zum Islam seinen Kopf rettete und ein Schneidergeschäft in Istanbul betrieb, konnte die Familie überleben.
1956, nach einer Gewaltorgie gegen die Armenier in Istanbul, ist die Grossmutter in die Schweiz gekommen. Zuerst musste sie mit ihrem Mann in einem fremden Land eine wirtschaftliche Basis legen. Für eine tiefer gehende Auseinandersetzung war da wenig Raum vorhanden. «Vielleicht ist es ganz typisch: Erst wir Nachgeborenen, die heute ein sicheres Fundament haben, können uns mit der belastenden Vergangenheit auseinandersetzen», sagt Renold.
Die Traumaforscherin
Aber rein privat ist Eugénie Renolds Interesse an der armenischen Tragödie keineswegs. «Das Geschichtstrauma schwingt mit, egal ob ich meine Cousins in Paris oder New York treffe: Es ist bei allen spürbar.» Am wichtigsten, um das Trauma verarbeiten zu können, wäre eben eines: die internationale Anerkennung des Traumas. «Im Gegensatz zum Holocaust, der anerkannt, wahrgenommen und somit verarbeitet wurde, konnten wir Armenier unser Trauma noch nicht verarbeiten.»
Text: reformiert. Nr. 1.2, Zürich, Delf Bucher | Fotos: Martin Guggisberg – Kirchenbote SG, April 2015
Armenische Tragödie immer noch im Kopf