Anwalt der Witwen
Sie habe «unauffällig» die Strassenseite gewechselt, berichtete mir kürzlich eine Frau, um einer Witwe nicht zu begegnen. Sie wisse einfach nicht, was sie ihr sagen solle, und sie wolle nichts falsch machen. Solche Vermeidungsstrategien erleben Hinterbliebene oft. Viele fühlen sich dadurch isoliert.
Auch zu biblischen Zeiten wurden Hinterbliebene ausgeschlossen. Meistens waren es Frauen, also Witwen. Biblische Texte finden für den Umgang mit ihnen deutliche Worte. Im Alten Testament werden Witwen vielfach in einem Atemzug mit Waisen und Fremden genannt. Witwen gehörten zur verletzlichsten Gruppe der Gesellschaft. Die einzige Absicherung bestand im Familienverband einer patriarchal geprägten Gesellschaft. Kinderlose Witwen kehrten in ihre väterliche Familie zurück oder heirateten innerhalb des Familienverbands ihres verstorbenen Mannes einen seiner Brüder. Wenn die Witwe Söhne hatte, sollten sich diese um sie kümmern. So ist auch eines der Zehn Gebote zu verstehen, das Elterngebot: «Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren und für sie sorgen!» Es ermahnt die erwachsenen Kinder, für ihre alten, schutzbedürftigen Eltern zu sorgen.
Von Witwen kann man etwas lernen
Wenn Gott sich der Witwen im besonderen Masse annimmt, wird seine Parteinahme für verletzliche Menschen deutlich. «Ein Vater der Waisen und ein Anwalt der Witwen ist Gott», steht in Psalm 68. Das ist auch eine Aufforderung Gottes, es ihm gleichzutun. Am Umgang mit Witwen, Waisen und Fremden zeigt sich die Gerechtigkeit einer Gesellschaft.
Nun werden Witwen in der Bibel nicht nur als schwache Hilfsempfängerinnen beschrieben. Von ihnen kann man auch etwas lernen. Es gibt herausragende Persönlichkeiten, die eine unglaubliche Kraft entfalten, für ihre Rechte eintreten oder noch schwächeren Menschen Schutz gewähren. So ist es eine Witwe, die dem Propheten Elija in einer Dürre hilft und mit ihm ihr letztes Öl und Brot teilt.
Den Richter ins Gesicht schlagen
Auch Jesus stellte Witwen in seinen Predigten nicht nur als Hilfsbedürftige, sondern auch als Vorbilder dar. So erzählt er in einem Gleichnis im Lukasevangelium von einer Witwe, der ein Richter nicht zu ihrem Recht verhalf. Doch die Witwe gab nicht auf. Hartnäckig kam sie immer wieder zu ihm und sagte: «Verschaffe mir Recht.» Schliesslich gab der Richter nach – nicht aus Überzeugung, sondern wegen ihrer Aufsässigkeit: «Dieser Witwe will ich, weil sie mir lästig ist, Recht verschaffen», sagte er sich, «damit sie am Ende nicht noch kommt und mich ins Gesicht schlägt.» Wie die Witwe dem Richter auf den Pelz rückt, so sollen die Menschen Tag und Nacht zu Gott schreien, sagt Jesus, und er werde ihnen Recht verschaffen.
In einer anderen Situation beobachtet Jesus, wie eine Witwe ein kleines Geldstück in den Opferkasten wirft – viel weniger als einige Reiche vor ihr. «Diese arme Witwe», sagt er, habe mehr eingeworfen als alle anderen zuvor. Jesus fordert die Zuhörenden nicht nur auf, sich für die von der Gesellschaft ausgeschlossenen einzusetzen. Er kehrt die Verhältnisse gar um und stellte die Marginalisierten als Vorbilder für die Mehrheitsgesellschaft dar.
Sagen, dass man unsicher ist
Die patriarchalen Strukturen der biblischen Zeiten sind veraltet. An die Stelle des Familienverbandes ist der Sozialstaat getreten. Die Anliegen der Bibel sind aber nach wie vor aktuell. Wir können daraus etwas für den Umgang mit Witwen und Witwern lernen.
Erstens sollen wir Anwältinnen und Anwälte Gottes sein für Inklusion. Das bedeutet, auf Menschen zuzugehen, statt sie auszuschliessen. Eine solche sorgende Gemeinschaft beginnt bei kleinen Dingen: Mit wem suchen Sie etwa das Gespräch beim Kirchenkaffee?
Zweitens: Witwen und Witwer sind nicht nur Hilfsempfängerinnen und -empfänger. Sie haben viel zu geben. Überall dort, wo sie sich beteiligen, wo sie aktiv mitgestalten und ihre Erfahrungen einbringen, tragen sie viel zum gesellschaftlichen Leben bei.
Und drittens bleiben Hinterbliebene eine Herausforderung: Sie erinnern uns durch ihr Dasein daran, dass das Leben endlich ist. Damit übernehmen sie eine wichtige Aufgabe. Sie fordern uns heraus, über unseren eigenen Tod, über den Abschied und unsere Ängste nachzudenken. Für die Begegnung mit der Witwe auf der Strasse hiesse das, nicht «unauffällig» die Strassenseite zu wechseln, sondern ihr zu sagen, dass man unsicher ist und nicht weiss, was ihr hilft. Oder erst einmal mit ihr zu schweigen.
BILL – Begleitung in der letzten Lebensphase
Die reformierte Pfarrerin Ute Latuski-Ramm leitet die ökumenische Fachstelle BILL (Begleitung in der letzten Lebensphase). Diese bietet seit vielen Jahren Kurse für Menschen an, die Angehörige oder ihnen Nahestehende in Phasen schwerer Krankheit oder am Lebensende begleiten. Sie vermittelt Wissen in Vorträgen rund ums Thema und steht für Beratung zur Verfügung. Ergänzend zur Kursarbeit koordiniert die BILL die «Letzten-Hilfe-Kurse» für die Region, vernetzt sich mit Palliative Care, Seelsorge und weiteren Fachgruppen.
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