News aus dem Kanton St. Gallen

«Antisemitismus lässt sich nicht überwinden»

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30.03.2020
Umfragen zeigen: der Antisemitismus ist auf dem Vormarsch, dies 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Literaturwissenschaftler Alfred Bodenheimer zu dieser Entwicklung.

Alfred Bodenheimer, Sie tragen auf der Strasse eine Kippa. Haben Sie keine Angst vor Übergriffen?
In der Schweiz weniger als im Ausland. In Frankreich und Deutschland überlege ich mir schon, ob ich die Kippa offen trage. Aber eigentlich habe ich keine Angst, ich wurde nur selten angepöbelt. Ich kann die Situationen an einer Hand abzählen. Und es fällt mir schwer, die Kippa auszuziehen. 

Warum?
Als ich vor zwei Jahren mit einer Gruppe Studenten Paris besuchte und die Kippa nicht offen trug, hatte ich das Gefühl, ich würde mich verleugnen. Mit der Kippa will ich nicht nur manifestieren, dass ich jüdisch bin, sondern sie hat für mich noch einen anderen Sinn: Für mich bedeutet das offene Tragen der Kippa ein Bekenntnis zur Demokratie und zur Umgebung, die mir die Freiheit gibt, offen zu meinem Judentum zu stehen. Mit der Kippa sondert man sich nicht ab, sondern zeigt, dass man sich mit der freiheitlichen Gesellschaft identifiziert.

Vor Kurzem gedachte man der Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren. Warum müssen wir heute noch über Antisemitismus reden? Jedem sollte klar sein, wohin dies führt.
Auch in 70 Jahren werden wir noch über Antisemitismus reden. Wir werden ihn nicht überwinden. Der Antisemitismus ist wie eine Krankheit oder eine Sucht, die einen besonderen Reiz ausübt. Dieser Reiz besteht in den Mythen, Geschichten und Verschwörungstheorien, die sich seit Jahrhunderten um das Judentum ranken. Der Antisemitismus ist kein plumper Rassismus, sondern er fasziniert gerade wegen seiner Mythen.

Man spricht heute von einem neuen Antisemitismus in Europa.
Neu ist, dass der muslimische Antisemitismus wächst, da die Anzahl der Muslime in Europa zunimmt. Ansonsten sind es die alten antisemitischen Ressentiments, die man heute stark auf Israel bezieht. Man erzählt die alten Geschichten einfach neu, etwa wenn man behauptet, dass Israel palästinensische Kinder tötet, um ihre Organe zu verkaufen.

Nicht nur die Rechten, auch linke Kreise behaupten, wenn man Israel kritisiere, werde man gleich als Antisemit hingestellt. Darf man Israel kritisieren?
Natürlich darf und soll man Israel kritisieren, so wie man jeden Staat kritisieren kann. Die Situation in Israel ist sehr komplex, schwierig und verfahren. Und die israelische Politik hat da sicher ihren Anteil dazu beigetragen. Solche Probleme kann man auch benennen. Doch bei Israel gibt es die Obsession, das Land zum weltweit einzigen Unrechtsstaat zu stilisieren. 

Woher kommt diese Obsession?
Es liegt in der DNA des Christentums und des Islams, dass Juden keinen eigenen Staat haben können. Das widerspricht dem jahrhundertealten Bild, das die Gesellschaft vom Judentum hat. Juden hatten sich unterzuordnen und wurden allenfalls geduldet, aber immer wieder auch verfolgt und vertrieben. Nach der Katastrophe des Holocausts anerkannte man die Gründung eines Staates für die Juden. Bis heute stellt der Staat Israel jedoch für viele etwas «Falsches» dar, das sie korrigieren wollen.

Liegt es auch daran, dass sowohl das Christentum wie der Islam auf das Judentum zurückgehen? Jesus war Jude, ebenso Paulus.
Christentum und Islam mussten sich legitimieren, da sie eine neue Form des Monotheismus entwickelten. Sie konnten sich nur behaupten, indem sie einen Urkonflikt mit dem Judentum konstruierten und die Juden systematisch abwerteten und ausgrenzten. Indem sie das Judentum in ihrem Machtbereich marginalisierten, stärkten sie ihre eigene religiöse Identität.

Heute zeigt sich der Antisemitismus im Internet in Form der verschiedensten Verschwörungstheorien.
Die antijüdische Polemik gab es schon im Mittelalter. Man warf den Juden alles Mögliche Teufelszeug vor. Die modernen Verschwörungstheorien über das Judentum kennen wir spätestens seit den Protokollen der Weisen von Zion Ende des 19. Jahrhunderts. Dass diese Verschwörungstheorien immer wieder erfolgreich sind, zeigt, wie empfänglich die Gesellschaft für sie geworden ist. 

Sind dies Wahnvorstellungen von Einzelnen?
Nein, das sind nicht Spinnereien von Einzelnen, denn sie waren unterschwellig schon lange da. Bis jetzt kontrollierten die Gatekeeper in den Redaktionen und Verlagen solche Äusserungen. Rassistische Leserbriefe landeten meist im Papierkorb. Doch jetzt kann jeder seine abstrusen rassistischen und antisemitischen Äusserungen im Internet verbreiten, wie letzthin im Fall des Täters von Hanau. Es sind keine einsamen Wölfe mehr. Im Web finden sich die Verschwörungstheoretiker zu virtuellen Gemeinschaften zusammen, in denen sie sich austauschen und getragen fühlen. Der Antisemitismus wird so wieder zum Allgemeingut und taucht beispielsweise in den Texten des Gangster-Rap auf.

Warum braucht der Mensch solche Verschwörungstheorien?
Wir leben heute in einer Welt, die kompliziert geworden ist, in der Millionen Flüchtlinge unterwegs sind, das Klima aus dem Lot gerät und der Druck und die Konkurrenz ständig wachsen. Etliche sind überfordert und suchen dafür Gründe und Schuldige. Sie glauben, dass die Gesellschaft zusammenbricht und die Politiker die Probleme nicht sehen. Sie halten die Demokratie für schwach und suchen das Heil im Nationalismus und anderen radikalen Vorstellungen. Die antisemitischen Mythen liefern ihnen die Erklärungen für den Grund allen Übels: Die Juden. Sie können letztlich alles, sei es die Klimaerwärmung oder das Corona-Virus, den Juden anhängen. So wie es letzthin in einigen arabischen Medien im Blick auf Israel und die USA geschah. Man muss verstehen, dass in diesem Weltbild die USA eine Marionette Israels sind.

Doch eigentlich sind die Juden eine sehr kleine Minderheit, vor allem in der Schweiz.
Das ist kein Grund, dass man ihnen nicht Macht und Einfluss zuschreibt, wenn man von der amerikanischen Hochfinanz an der Ostküste der USA spricht oder von den Machenschaften des Mossad.

Braucht die Gesellschaft Sündenböcke und Prügelknaben?
Prügelknaben ist das falsche Bild für den Antisemitismus. Gegenüber den Juden schlüpfen die Leute in die Rolle des Opfers. So rechtfertigen sie den Antisemitismus, denn sie wehren sich ja nur gegen die Juden, welche die Gesellschaft angeblich unterwandern. Sie sehen sich als die Schwächeren. Dieses fatale Muster hat sich in vielen Köpfen und in der Gesellschaft festgesetzt. Ich weiss nicht, ob man dies je überwinden kann.

Da lässt sich mit rationalen Argumenten wenig ausrichten?
Ja. Anlässlich der 75 Jahre der Befreiung von Auschwitz war viel davon die Rede, dass die Zeitzeugen langsam aussterben und niemand mehr über diese Verbrechen erzählen kann. Doch warum sind diese Zeitzeugen so wichtig? Wir kennen ja alle die historischen Fakten. Die Überlebenden konnten die persönlichen Geschichten von Menschen vermitteln, die verfolgt und ermordet wurden – und dies aus dem Nichts heraus. Das verstand jeder. Jeder konnte erkennen, wie eine ganze Gesellschaft versagt hatte. Solche Schilderungen des Leids, Wahns und des Todes scheinen die einzigen Mittel, um gegen die faszinierenden Mythen des Antisemitismus anzukämpfen. Sie lösen einen Gegenschock aus, sodass sich mancher fragt, was ist da passiert, dass man selbst kleine Kinder verfolgte und vergaste?

Ist es nicht ein Armutszeugnis für die Menschen, dass man dem Rassismus und Antisemitismus nicht mit der Vernunft begegnen kann?
Ich würde eher sagen, die Vernunft hat mehr geschafft, als man erhoffen konnte.

Sie klingen pessimistisch.
Nein. Ich denke, es ist eine Illusion zu glauben, dass der Antisemitismus verschwindet. Es ist schon viel, wenn wir ihn unter Kontrolle halten können. Der Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der Juden, sondern der ganzen Gesellschaft. Dort wo der Antisemitismus erstarkt, verliert die Gesellschaft ihren Zugang zum freiheitlichen Denken. Wenn wir es akzeptieren, dass andere ausgegrenzt und verfolgt werden, dann ist dies der Anfang vom Ende einer Demokratie. Wenn dies zur Norm wird, ist die Gesellschaft kaputt. Heute erleben wir in vielen Staaten, wie fragil die Demokratie ist. Wenn wir unsere freiheitlichen Werte und die Demokratie nicht verteidigen, gehen wir harten Zeiten entgegen. Und nicht nur die Juden, es wird alle treffen.

Es heisst, dass viele Juden aus Europa nach Israel auswandern. Gibt es Gründe dafür?
Solche Entscheide sind ja subjektiv. Ich denke, in Deutschland und Frankreich herrschen andere Verhältnisse als in der Schweiz. Dort wird der Antisemitismus offen ausgelebt. Es gibt den alltäglichen, kleinen und ekelhaften Antisemitismus, der die Menschen zermürbt. Viele fragen sich dann, kann ich in diesem Land noch leben? Letzthin hat die jüdische Schriftstellerin Lena Gorelik, die in Deutschland lebt, in der «Zeit» geschrieben, dass an ihrer Haustür ein falscher Name steht, weil sie Angst hat. Wenn Menschen sich zu Hause nicht mehr sicher fühlen, dann haben wir alle ein Problem.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 30. März 2020

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