«Alles war tot in mir»
Wenn Lea* abends in ihre Wohnung kam, fühlte es sich an, als fiele ihr die Decke auf den Kopf. Sie ass nicht mehr regelmässig, und was sie ass, erbrach sie. «Irgendwie gab mir das Erbrechen das Gefühl, zu leben», notierte sie, als es ihr wieder etwas besser ging. Sie fand Gefallen daran, sich wehzutun. Das Verlangen, sich zu schneiden und stechen konnte sie unterdrücken. «Dafür kniff ich mich sehr oft», schrieb sie, «und ich drehte mit der Hand meinen Arm um, bis es wehtat. In diesem Schmerz verweilte ich, bis die Tränen flossen. Ich weinte mich jeden Abend in den Schlaf.»
Ein einziger Schrei nach Hilfe
Einige Monate nach ihrem ersten Burn-out schrieb Lea ihre Erfahrungen in einem Tagebuch nieder. Es ist ein eindrückliches und bedrückendes Zeugnis. Lea arbeitete damals in einem Beruf mit viel Menschenkontakt. Das zwischenmenschliche Auf und Ab wurde zur Belastung. Kaum jemand bemerkte, wie schlecht es ihr ging. Ihr Vorgesetzter unterstützte sie, so gut es ging. Doch das reichte nicht. «Ich kriege nichts mehr auf die Reihe», vertraute sie ihrem Tagebuch an. «Das schmutzige Geschirr stapelt sich. Ich versuche, die Panik unter Kontrolle zu bringen. Immer wieder fange ich eine neue Arbeit an, ohne die andere fertigzustellen.»
In der Krise gab Lea eine Halskette mit einem Kreuz das Gefühl, trotz allem getragen zu sein. Doch selbst zum Duschen fehlte ihr die Kraft. «Der Tag kam und ging», erinnert sie sich, «und ich versuchte, ihn durchzustehen. Alles war tot um mich und in mir drin.» Suizidgedanken kamen auf. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass alles nur ein Schrei nach Hilfe war: «Hilfe!», schrieb sie in ihr Tagebuch. «Sieht denn niemand, dass ich Hilfe brauche?»
Heute, rund 20 Jahre später, frage ich sie: Welche Hilfe hätte sie denn damals benötigt? «Ich habe mich abgekapselt, mir nicht helfen lassen», sagt sie nachdenklich. «Vielleicht hätte mir geholfen, wenn mich jemand am Arm gepackt hätte und gesagt hätte: ‹So, jetzt gehen wir zusammen zum Arzt.›»
Wie Lea schliesslich wieder ins Leben fand, ist ihr bis heute selbst nicht klar. Irgendwie schöpfte sie Mut, kündigte die Stelle und begann eine neue Ausbildung. So fasste sie wieder Tritt. Heute hat sie ein reichhaltiges Beziehungsnetz, lebt mit ihrem Mann zusammen, verbringt viel Zeit in der Natur und macht einen fröhlichen und ausgeglichenen Eindruck.
Buchstäblich in die Ecke gedrängt
Doch zehn Jahre nach ihrer ersten Krise schlitterte Lea in ihr zweites Burn-out. «Mein damaliger Chef war extrem unberechenbar», erinnert sie sich. Die Vorgaben änderten ständig, Lob und Wutausbrüche wechselten sich ab. Lea hingegen ist sehr pflichtbewusst, loyal und kann sich schlecht abgrenzen. Sie nimmt auch die Fehler der anderen auf sich und versucht, sie zu lösen. «Das war keine gute Kombination», stellt sie heute fest. Der Chef wurde zwar nie handgreiflich: «Aber mein Pult war in der Ecke des Büros», erzählt sie, «und wenn sich der Chef davor aufbaut und einen abkanzelt, fühlt man sich buchstäblich in die Ecke gedrängt. Das ist bedrohlich.»
Im Unterschied zu ihrem ersten Erschöpfungszustand konnte sich Lea nun Hilfe holen. Seit Jahren schon war sie in einer Psychotherapie, und schliesslich zog die Therapeutin die Notbremse. Mit den Worten «Was soll denn noch passieren?» schickte sie Lea zum Hausarzt, um sie in eine Klinik einweisen zu lassen. Allerdings verzögerte sich die Einweisung um vier Wochen. «Ich sagte beim Aufnahmegespräch, ich könne unmöglich sofort kommen», schmunzelt Lea, «da ich im Büro vorher noch so viel zu erledigen hätte.»
Es zu akzeptieren, fällt schwer
Rund zwei Monate verbrachte Lea in der Klinik. Eine Zeit, in der sie sich erholen und Distanz gewinnen konnte. Hat sie dort Strategien gelernt, um sich im Berufsalltag zu schützen? «Ja, aber funktioniert haben die bei mir nicht», gibt sie unumwunden zu. «Für sich schauen, Anker setzen, Grenzen abstecken – das tönt alles gut. Aber wenn du das nicht im Alltag umsetzen kannst, bringt das nichts.»
Da ihr Vorgesetzter sich nicht bereit zeigte, am Betriebsklima zu arbeiten, wechselte Lea wenige Monate nach ihrer Rückkehr die Stelle. Seither geht es ihr besser. Ihre Krisen hat sie aber nicht vergessen: «Es fällt mir bis heute schwer, zu akzeptieren, dass ich nicht in der Lage war, mein Leben zu meistern. Es fällt mir schwer, diese Krisen zu verstehen, auch im Wissen darum, dass ich immer noch sehr aufpassen muss.» Aber das sei halt ihr Weg gewesen. «Ich will solche Situationen nie mehr erleben und trotzdem weiss ich, dass ich mich dadurch auch weiterentwickelt habe.»
*Name geändert
«Alles war tot in mir»